Galerie Hubert Winter

Katarina Zdjelar - Michael Höpfner
Luigi Fassi — Issue #05. Ausstellungskatalog AR/GE Kunst, Bozen, Mousse Publishing. 2010

Katarina Zdjelar und Michael Höpfner untersuchen in ihren Arbeiten Modelle der Überlieferung und Mechanismen kollektiver Wahrnehmung innerhalb der westlichen Kultur. Diese künstlerischen Untersuchungen führen zu einer tiefgreifenden kritischen Analyse der politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen der gegenwärtigen Welt. Indem sie individuell unterschiedliche Zeitpläne zwischen Vergangenheit und Zukunft durchlaufen, erforschen Höpfner und Zdjelar die Landschaft der kulturellen Erosionen. Dabei erheben sie beide Zweifel an der Idee des Fortschritts, die als Matrix unserer westlichen Gesellschaft fungiert, und stellen deren festgesetzte Codes in Frage.
Katarina Zdjelar arbeitet als Künstlerin in verschiedensten sozialen Zusammenhängen. Ihre Methode der Kulturkritik ist eine strategische Analyse der gesprochenen Sprache. Die gesprochene Sprache ist für die serbische Künstlerin Ausdruck einer kontinuierlich fortschreitenden kulturellen Entwicklung, die voller Widersprüche und Ideologien, Verwirrungen und Überlappungen steckt - wie ein chemisches Reagens zur Untersuchung der Mechanismen von Identitätszuschreibung, sozialer Zugehörigkeit und geschichtlicher Erinnerungen.
In A Girl, the Sun and an Airplane Airplane (2007) bittet Zdjelar einige Bürger der albanischen Hauptstadt Tirana, in einem Aufnahmestudio ganz ungezwungen russisch zu sprechen. Ziel der Künstlerin ist es, im Sinne eines linguistischen Gedächtnisses sprachliche Reste aus der Zeit der Diktatur unter Enver Hoxha wiederaufleben zu lassen, als Russisch noch die Sprache der Kultur und Politik in Albanien war. Diese Arbeit ist ein Versuch, in den Tiefen des kollektiven Unbewussten zu graben, dieses zu erforschen und individuelle, linguistische Reminiszenzen zutage zu fördern, die einer vergangenen Epoche angehören. Als simples Instrument zur Vermittlung von Kommunikation, wird Sprache in dieser Arbeit von Zdjelar als materielle Notwendigkeit und als ideologisches Vehikel analysiert, das die Überlieferung eines spezifischen Gemeinsinns und einer ganz bestimmten Konzeption der Welt ermöglicht. Wo liegt die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart? Wie sehr kann eine Sprache zum Instrument der Überlieferung und damit einhergehend zum Werkzeug eines politischen und sozialen Wandels werden? Für die in das Projekt miteinbezogenen Bürger von Tirana bringt die Aufgabe russisch zu sprechen, eine Menge unterschiedlicher biographischer Erinnerungen mit sich. Während die älteren Teilnehmer sich noch an viele Worte und Sätze erinnern, versuchen die Jüngeren vergeblich, ihr linguistisches Gedächtnis abzurufen. Zwar scheint dieses Gedächtnis noch dunkel vorhanden zu sein, doch finden die Beteiligten aufgrund der spezifischen Chiffren dieser Sprache heute keinen Zugang mehr zu ihr. Zdjelar gelingt es, die zweideutigen und flüchtigen Beziehungen aufzuzeigen, die das Verhältnis zwischen gesprochener Sprache, Gedächtnis und Identität ausmachen. Die nachlassende, beinahe vergessene Kenntnis des Russischen zeichnet ein symbolisches, aber vor allem auch ein materielles und sehr konkretes Bild von einer im Inneren des kollektiven Gedächtnisses Albaniens stattgefundenen kulturellen Erosion. Wie in einem Prozess des kulturellen Verlustes, in dessen Verlauf zwei verschiedene Momente gegeneinander ausgespielt werden, stellt die Künstlerin die Gegenwart anthropologisch der Vergangenheit gegenüber – als linguistisches Verhältnis zwischen Erinnerung und Vergessen. Das Ergebnis ist eine radikale Unbestimmtheit zwischen zwei zeitlich verschiedenen Momenten, die imstande ist, das kritische und emanzipatorische Potenzial des geschichtlichen Wissens hervorzuheben. A Girl, the Sun and an Airplane Airplane konfrontiert das zeitgenössische demokratische Albanien mit den zersplitterten Erinnerungen aus der jüngeren Vergangenheit des Landes und lässt sie aufeinanderprallen. Auf diese Weise reflektiert Zdjelar in ihrer Arbeit die Thematik der geschichtlichen Verantwortung und hinterfragt das Verhältnis zwischen Wirklichkeit und geschichtlichen Fakten, aber auch deren Assimilation auf privater wie individueller Ebene.
Everything is Gonna Be (2008) ist eine weitere Vertiefung der philosophischen Analyse der Künstlerin, dabei geht es um das Verhältnis zwischen der Sprache als materielle Instanz und andererseits als kulturelles Zeugnis einer kollektiven Identität. Die Videoarbeit selbst wurde von der Künstlerin in Norwegen realisiert. Im Mittelpunkt steht eine Gruppe von Menschen mittleren Alters. Sie sind im norwegischen Wohlfahrtsstaat aufgewachsen, der im Zuge der wirtschaftlich-industriellen Entwicklung des Landes seit den 60er Jahren Schritt für Schritt aufgebaut wurde. Die Gruppe, ein Laienchor von Freunden, singt auf Bitten der Künstlerin ein berühmtes Lied der Beatles - „Revolution“. Es ist ein Dialog zweier Menschen über die 1968er Zeit und über ein immer noch ungelöstes Verhältnis zwischen Revolution und Gewalt, zwischen sozialem Wandel und politischem Extremismus. Zdjelar fokussiert in ihren Bildern den Ausdruck der Sänger während ihrer Interpretation des Liedes und unterstreicht damit die Einzigartigkeit der Gesichter und der sichtbaren Emotionen, aber auch die Schwierigkeiten bei der Wiedergabe des Liedes. Der flüssige, aber nicht perfekte Gebrauch der englischen Sprache vonseiten der Sänger wird in der Arbeit der Künstlerin zur symbolischen Darstellung der Unzulänglichkeit der Sänger in Bezug auf den Inhalt des Liedes. So erscheint es beinahe als Inszenierung eines Unbehagens, deren Ursache durch die Distanz zwischen den jugendlichen Ambitionen und der biographischen Wirklichkeit der Sänger gegeben ist. Die Arbeit konzentriert sich auf die Schwankungen zwischen Form und Inhalt sowie zwischen der Wiedergabe des Liedes und seiner Bedeutung für die norwegische Sängergruppe. Als direkte und unbearbeitete Aufnahme, vereint Everything is Gonna Be eine Reihe von Fragen zum Verhältnis zwischen Sozialdemokratie und Zivilcourage bzw. zwischen politischem Aktivismus und gesellschaftlichen Kompromissen in einem einzigen Thema. Was ist das Ergebnis von vierzig Jahren sozialen Engagements in Europa? Was sind die aktuellen Möglichkeiten des zivilen Ungehorsams und politischen Engagements der europäischen Bürger in der neuen globalen Weltordnung? Everything is Gonna Be eröffnet auf diese Weise eine komplexe Reflexion über die politische Idee des heutigen Europa und über das Potential seiner zivilisatorischen und kulturellen Rolle in der gegenwärtigen Welt. Die Künstlerin untersucht das Verhältnis zwischen historischem Gedächtnis und individuellem Bewusstsein anhand des Sprachgebrauchs. Auf diese Weise ist sie in der Lage, auch hier ein grundlegendes Unbehagen sowie Unsicherheit festzustellen. Sie verarbeitet so die Relikte der Gegenwart und der Vergangenheit – zwischen der Sprache als funktionaler Kommunikation und ihrem symbolischen Pendant der kulturellen Verankerung von Identität.
Erosion, Identität, Gedächtnis und Verlust sind auch Schlüsselbegriffe der Arbeit von Michael Höpfner. Der österreichische Künstler hat im Laufe der letzten Jahre eine künstlerische Praxis der geografischen und kulturellen Entfaltung entwickelt. Dabei durchwandert er zu Fuß Randgebiete und verlassene Landschaften verschiedener Kontinente. Seine Arbeit gestaltet sich als Kulturanalyse, die einer Logik der Feldforschung folgt und sich auf dem Grenzgebiet zwischen Utopie und Scheitern bzw. zwischen individueller Freiheit und kultureller Auflösung bewegt. So ist Oupost of Progress (2009-2010) das Ergebnis einer achtwöchigen Wanderung von Höpfner über das Hochplateau des Chang Tang im westlichen Tibet – eine Region, die von etwa fünfzigtausend Menschen bewohnt ist, die nach alter Tradition ein nomadisches Leben führen. Als Gebiet, zu dem Touristen und Ausländer keinen freien Zugang haben, gehört es zu den unbekanntesten Gegenden der Erde. So erweist sich das Gebiet Chang Tang im Verlauf der künstlerischen Erkundung Höpfners als Ort der organisierten Arbeitslager, der Festungen territorialer Eroberung, endloser Autobahnen sowie zahlreicher architektonischer Zerstörungen und Umweltschäden. Weit entfernt von jeglichem Ideal einer unberührten Natur und einer sauberen Umwelt, erscheint die von Höpfner dokumentierte tibetische Region ganz im Gegenteil als Vorposten der Zerstörung des Planeten durch die industrialisierte Gesellschaft. Es ist das Schauspiel einer Auslöschung von Kulturen und Traditionen, die seit Jahrtausenden verankert sind. In Schutzhäusern, Grotten und kleinen Hütten trotzen die Einwohner Chang Tangs dem Vormarsch des globalen Fortschritts. Durch vielfältige Formen einer unsichtbaren nomadischen Lebensweise verteidigen sie ihre im Auflösen begriffene Kultur. Mit seinen fotografischen Aufzeichnungen, Diapositiven und notdürftigen Wohnmodulen, die sich an der unscheinbaren Bauweise der Region orientieren, ist Outpost of Progress Ausdruck eines radikalen Blicks des österreichischen Künstlers auf unsere heutige Zeit und unsere Vorstellungswelt. Die Arbeit wendet sich gegen die Idealisierung einer Harmonie und Homogenität, die wir für gewöhnlich mit den großen Naturgebieten verbinden. Vielmehr zeigt sie die Brutalität des Antagonismus, der zwischen Sesshaftigkeit und Nomadentum, zwischen Tradition und Entwicklung besteht. Auf einem komplexeren Niveau der Interpretation wenden sich die Chiffren der künstlerischen Untersuchung Höpfners gegen die koloniale, der westlichen Kultur inhärente Vorstellung des Exotischen. Vielmehr entwickelt der Künstler eine Analyse, die einer gänzlich anderen zeitlichen Ordnung, nämlich jener des umherirrenden Wanderns, folgt. In diesem Sinne ist der Titel Outpost of Progress zu verstehen, den Höpfner aus der gleichnamigen Erzählung von Joseph Conrad aus dem Jahr 1897 bezieht. Der englische Schriftsteller mit polnischen Wurzeln ist selbst ein paradigmatisches Beispiel für den kosmopolitischen Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts und die konfliktreiche Schaffung einer Subjektivität, die sich kulturell zwischen Europa und der afro-asiatischen Welt bewegt. Auf diese Weise wird die Arbeit von Höpfner zu einer Vermittlung zwischen unterschiedlichen Kulturen und Welten, zum performativen Unbehagen, welches sich im Akt des Gehens ausdrückt und für einen tiefgründigeren Blick sorgt. Zugleich erweitert es das kritische Bewusstsein der Wahrnehmung. Welche Kulturmodelle und -formen sind in der Lage, jenes Wissen zu vermitteln, das nicht zur westlichen Kultur gehört? Was bleibt von dem ideologischen Schisma des zwanzigsten Jahrhunderts zwischen dem europäischen und dem primitiven Blickwinkel? Die einsame künstlerische Praxis Höpfners versucht, auf diese Fragen zu antworten und nimmt zu diesem Zweck die Form einer Revolte an, die es schafft, die Rhetorik der kollektiven Mitbestimmung als kulturell und politisch effiziente Lebensform in Frage zu stellen. Die Arbeit Outpost of Progress zerstört die Illusionen und Täuschungen der westlichen Vorstellungswelt und dokumentiert in letzter Instanz einen physischen und mentalen Ort des Widerstands gegen den globalen Kapitalismus, indem sie im Rhythmus des Wanderns mit der Möglichkeit einer völlig anderen Form von Freiheit experimentiert.