Galerie Hubert Winter

Behind the Lines
Francesco Stocchi — in: Judith Fegerl. #64 hot-wired. 2013

Unsere Beziehung zur Tradition ist derart breit angelegt und anhaltend, dass man beinahe behaupten könnte, Originalität im absoluten Sinne gebe es überhaupt nicht, ohne Widerspruch befürchten zu müssen. Wir haben es sicherlich ständig mit Erfindungen, Sinnumwälzungen, neuen Lesarten und ständigen Verbesserungen zu tun, die sich aber alle mehr oder weniger deutlich auf historische Konventionen beziehen. Indem wir uns das zunutze machen, was wir hören und was wir sehen, tun wir bei unserer Interpretation nichts anderes, als Schicht für Schicht aufeinander zu legen, wodurch wir Sinnsedimente entstehen lassen. Alle zitieren, stellen Alt und Neu nebeneinander und mischen die Tradition mit dem Zeitgenössischen. Man zitiert aus Vergnügen daran, aus Neigung, aus Bedürfnis, des Tributes halber oder mitunter auch, um sich einen Anstrich zu geben. Indem man zitiert, erweckt man die Vergangenheit zu neuem Leben, was in den besten Fällen eine neue Einordnung gelingen lässt. Wir zitieren nicht nur Bücher und Sprichwörter, sondern auch Kunststile, wissenschaftliche Theorien, Gebräuche, Musikformen, Architekturen und Objekte. Niemand kann sich dem entziehen, vor allem nicht derjenige, der für sich Originalität beansprucht oder sich künstlich angestrengt darum bemüht. Wenn ich Tasso lese, denke ich an Vergil, wenn ich dann Vergil lese, fallen mir Ovid und schließlich Homer ein. Schon der Klassizismus und später die Postmoderne haben, wenn auch in anderer Art und Weise, versucht, die Frage von Ursprung und Originalität im Hinblick auf die Zusammenhänge zwischen den menschlichen Errungenschaften zu lösen.

Das Auftreten der digitalen Kultur hat der Vertikalität der Zeit ein horizontales Axiom hinzugefügt, das unsere Beziehung zum Archiv in eine aktuelle Vergangenheit umwandelt, wodurch unsere Denkprozesse und unsere Gedächtniswahrnehmungen am Ende neu gestaltet werden. Der Zugang zu Formeln, zu vergangenen Erfahrungen, erlaubt uns, auch kaum Bekanntes oder Vergessenes zu aktualisieren, wobei wir ihm eine neue Gegenwart verleihen. Wir dürfen also unseren Tribut gegenüber der Vergangenheit nicht überbewerten, auch deshalb, weil dieser unvermeidlich seiner Beziehung zur Gegenwart unterzogen wird. Nur ein Erfinder weiß genau, wie man etwas borgt oder „stiehlt“, um einen berühmten Ausspruch von Picasso abzuwandeln. Die produktivste Beziehung zur Vergangenheit ist die, bei der diese wieder zum Leben ersteht, allerdings ohne subjektive Einseitigkeiten. Die Vergangenheit präsentiert sich ja nicht als ein monolithischer, starrer oder toter Zustand, sondern als Quelle, an der man seinen Durst stillen kann. Ein Ort, an dem man, wenn man ihn zum ersten Mal wieder sieht, innerhalb des Bekannten das Neue erleben kann.

Judith Fegerls Werk #64 hot-wired (2011) könnte also von einem zerstreuten Blick als ein rein auf Zitate aufbauendes definiert werden, oder - wenn man so will - als Aneignung des Werks von Fred Sandback. In Wirklichkeit ist aber sein Ursprung in einem edlen Gefühl der Unzufriedenheit zu suchen. Der Ausdruck eines Erkundungsdranges, der sich eher in der Recherche niederschlägt als in einer Hommage. Sandback realisierte 1975 im Münchner Kunstraum eines seiner radikalsten Werke mit dem Titel Sixty-Four Three-Part Pieces. Indem er auf den Faden zurückgriff, um einen Darstellungsmodus für den negativen Raum zu finden, installierte der amerikanische Künstler in jedem der drei Ausstellungsräume der Institution einen eisenfarbenen Wollfaden. Das Werk erinnerte, wie es der Künstler selbst definierte, an einen pedestrian space, womit er sich eine Annäherung an etwas Alltägliches, Geläufiges und Naheliegendes vornehmen wollte. Untrennbar mit diesem seriellen Werk verbunden ist daher die dynamische Komponente in der Zeit: Da es aus 64 möglichen Varianten besteht, von denen der Künstler 6 realisiert (pro Ausstellungswoche ein neues Arrangement), lässt er anhand der Erfahrung eines Fragments die Vorstellung des vollständigen Werks entstehen. Sandback versucht also, sich von den idealistisch aufgeladenen Kunsterfahrungen der Vergangenheit zu distanzieren, indem er eine gewisse Unzufriedenheit ausdrückt, die derjenigen ähnlich ist, die Fegerl gegenüber der Realität manifestiert, die sie umgibt, und die ihr ermöglicht, durch Dekonstruktion spontan Zeichen von Kunst zu produzieren. Da er jedoch an der objektiven Ansicht des Werkes (oder besser, der möglichst wenig subjektiven) interessiert ist, wie bestimmte seiner Zeitgenossen, begleitet Sandback Sixty-Four Three-Part Pieces mit einem Katalog, der alle 64 möglichen Variationen vorführt.

Fegerl geht gerade davon aus und fragt sich beispielsweise: Ist das ein einziger Faden, oder sind es drei voneinander verschiedene Fäden? Wenn sie miteinander zusammenhängen, was ist dann dahinter? Oder besser, was verbirgt sich hinter der minimalistischen Anordnung?

Mich haben die aufgrund ihrer Neugier Unzufriedenen immer schon interessiert, vielleicht sogar fasziniert. Diejenigen, die sich nicht mit dem zufrieden geben, was sie umgibt, was sie sehen und was ihnen geboten wird. Sie nehmen die Tatsachen nicht einfach als Regeln hin und glauben an die Selbstbestimmung als Möglichkeit kollektiver Beitragsleistung, gegen den Stillstand schwer wiegender Gewohnheit, der sich oft genug in Konventionen verwandelt. Oder, in den schlimmsten Fällen, in Manier. Der lateinische Ausspruch Etiamsi omnes, ego non1 charakterisiert diese Haltung sehr gut, die man als persönliche Einstellung auffassen kann, aber nicht als individualisierenden Akt. Das betrifft nicht einmal jene Erfindungen, die vielleicht, wie das häufig auf dem Gebiet der elektronischen Neuerungen passiert, eine Reihe neuer, unerwünschter Bedürfnisse schaffen, die sich rasch zu unvermeidlichen Erfordernissen entwickeln. Es handelt sich dagegen im Vergleich zum bereits Bestehenden um innovative Angebote, die sich im unzufriedenen Individuum in unbedingte Verbesserung verwandeln. Welcher Bedarf besteht heute daran, noch einen weiteren Stuhl zu entwerfen? Die Faszination gegenüber scheinbar unnützen Beschäftigungen, denen allgemein keine dringende primäre Notwendigkeit eingeräumt wird, lässt die Gesellschaft besser werden, weil sie sie dazu verpflichtet, über sich selbst nachzudenken, statt ihr die Muße und das simple Wohlbefinden zu gewähren, blind auf einen nicht näher definierten Horizont zu starren. Die Unzufriedenheit hilft uns, unsere Vergangenheit zu betrachten, zu analysieren und zu lernen, sie nicht als selbstverständlich gegeben oder unverrückbar anzunehmen. Alle Epochen sind zeitgenössisch2: Wir setzen uns ständig mir der Vergangenheit auseinander, und ihre kritische Interpretation definiert unsere Zukunft. Jeder gute Künstler schreibt unsere Kenntnis von der Vergangenheit neu und lässt sie dadurch dichter, tiefer und reicher werden.

Mit ihrem neugierigen Blick auf die Vergangenheit nimmt Judith Fegerl anhand von #64 hot-wired eine .berführung von körperlicher Präsenz in manuelle Handlung vor. Fred Sandbacks Fäden entwerfen einen negativen Raum, innerhalb dessen der Körper sich gleichermaßen vage zwischen Raum und Skulptur bewegt, wobei die Grenzen nicht genau zu unterscheiden sind undvielleicht nur je nach der eigenen Präsenz gezogen werden. Dieser Raumentwurf ist mittels Collage auf Papier übertragen. Das Volumen wird zur Fläche, Wolle verwandelt sich in Kupfer, die Gegenwart des Körpers manifestiert sich im hinterlassenen handwerklichen Akt des Nähens. Es ist gerade die manuelle Spur, die uns zu bedeutsamen Erinnerungen und tief empfundener Gefühlszust.nden befähigt. Judith Fegerl webt mit Kupfer, indem sie ein unergiebiges Material, das Energie absorbiert, durch ein reflektierendes ersetzt. Warm und kalt. Einen isolierenden Faden durch einen leitenden Draht. Organisch durch industriell, aber jedenfalls bleibt die Semiotik des „Textilen“, die nötig ist, um zu zeigen, dass die spezifische Bedeutung des Materials auf Wissen und Erfahrung beruht. Diese existieren als immanente Spuren des Tastsinns, der Handhabung und Beherrschung, die der Absenz des Körpers Präsenz verleihen können. Das Kupfer begleitet seit jeher die Entdeckungen des Menschen. Es lässt einen kurzen Überblick über das Leben zu, das er im Raum und insgesamt in der Wirklichkeit führt. Die Kurzlebigkeit und die Intensität des Kupfers, das in historischer Zeit durch den Faden wiederentdeckt wurde, bedeutet Wandel, und Wandel ist in diesem Falle gleich Kunst.3

Diese Beziehung zwischen Materialität und Bedeutung bleibt intakt. Die von Sandback mit Wollfäden gezeichneten Volumen verwandeln sich in einen geschlossenen Kreis aus Kupfer, in einen kreisförmigen, dauernden Energiefluss. Ein Material, das auf das Gefühl und die Erinnerung der Künstlerin verweist, aber auch auf das Metall, das die Menschheit am längsten verwendet und nützt. Die ursprüngliche Beziehung, die sich in der Menschheitsgeschichte zum Kupfer entwickelt hat, spiegelt auf persönlicher Ebene die unmittelbare Beziehung, die der Körper mit dem Gewebe eingegangen ist, mit den Kleidern, die aus Tausenden geordneter Fäden bestehen. Eine emotionale Körpererfahrung, die sich gerade bei der Näharbeit wiederfinden lässt.

Die Serie #64 hot-wired verkörpert ein Hin und Her zwischen Zärtlichkeit und Spannung und umgekehrt. In musikalischen Begriffen würde ich es aufgrund von Rhythmus und Harmonie als ein Pianissimo definieren, das durch die Angleichung an eine analytisch-synthetische Klassifizierung Form annimmt. Diese wurde in erster Linie vom indischen Mathematiker und Bibliothekar Ranganathan theoretisch beschrieben und besteht in einem Vorgang, durch den ein Subjekt in einfache Kategorien gegliedert (fünf, nach Ranganathan: Persönlichkeit, Materie, Energie, Raum und Zeit) und anschließend nach Maßgabe einer vorbestimmten Ordnung wieder zusammengesetzt wird, die auf jenen Kategorien beruht, statt auf Hierarchien.

Die Serie #64 hot-wired beinhaltet alle fünf Kategorien, indem sie sie im Kurzschluss eines umgekehrten Modernismus auflöst. Die Form generiert die Funktion, indem sie eine eigene, mögliche Komposition in der Dekonstruktion dessen findet, was wir gelernt haben.

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1 Auch wenn alle - ich nicht.
2 Ezra Pound
3 Mario Merz