Galerie Hubert Winter

Birgit Jürgenssen oder Körper-Kunst wider die Semiotik des Kapitals
Peter Weibel — In: Ausst.-Kat. Birgit Jürgenssen. Früher oder Später. Oberösterreichisches Landesmuseum. Linz. 1998

Zu den tragi­schen Folgen der Selbstzerstörung Europas im zweiten Welt­krieg zählt, daß das, was in den 90er Jahren vom Kunst­betrieb als Gender-Debatte aus den USA importiert wurde, in den 70er Jahren in Europa schon stattfand und von diesem Kunst­betrieb unter­drückt wurde.
In Österreich sind Valie Export und Birgit Jürgenssen als zwei herausra­gende Künst­le­rinnen zu nennen, die in den 70er Jahren begannen, kulturelle Konstruktionen von Weiblichkeit zu unter­graben und dabei ihre Körper als Projekti­ons­fläche kultureller Codes und deren Kritik zu benutzen. In einprägsamen, beißend scharfen Bildern, seien es Fotografien, seien es Zeich­nungen, hat Birgit Jürgenssen die bestehenden einschränk­enden kulturellen und sozialen Konditionierungen der Frau, die Mechanismen und Automatismen der Unter­drückung der Frau, dekon­struiert. In gleichsam stilisierten Selbstporträts entfaltet Jürgenssen kritisch den Horizont der sozial diktierten Aktivitäten und Funktionen der Frau, wie Putzen, Bügeln, Kochen. In der Zeich­nung "Fensterputzen" (1974) wird quasi ein Lebens­film der Frau projiziert, vom Glücksver­spre­chen der Ehe bis zum Elend des Alltags. Immer wieder zeigen die Zeich­nungen Codes der Leib­ei­genschaft und der Enteig­nung: Wenn die Frau als Teil des Mobiliars und der Kleidung sich selbst bügelt, oder unter dem voyeuristi­schen Blick des Mannes an das Bild festge­nagelt ist, das der Mann sich von der Frau macht. Jürgenssen zeichnet stets Szenarien des alltägli­chen Schre­ckens. Ihre Frauen sind nie im Besitz ihrer selbst, sondern festge­nagelt an das Haus, an dessen Mobiliar, an dessen Einrich­tung, eingezwängt in die Kleidung, sei es der Braut, sei es der Köchin. Die Küche ist in "Küchen­schürze" (1975) Teil ihrer Kleidung, so wie die Frau in der Zeich­nung "Bügeln" Teil der Tischdecke ist. Als über­lebens­große "Studentin"(1976), als Kindfrau, wie als über­lebens­große Katze, bleibt die Frau einge­sperrt im Käfig des Haushalts und des Hauses, gefesselt an die Ketten ihrer sozialen Funktionen. Die "Infan­tilgesellschaft" (so der Unter­titel eines Romans von Elfriede Jelinek 1972) (1), welche das Idealbild der Konsumgesellschaft ist, wird hier bereits in einer Weise künst­lerisch kritisiert, wie wir es später bei Charles Ray etwas weniger kritisch kennenlernen werden. Die euphe­misti­schen Benennungen der Frau als "Hausfrau" bzw. als "Frau­en­zimmer" bezeichnen nichts anderes, als den Zustand der Domestikation (domus = Haus) der Frau durch ihre Bindung an den Haushalt, das Haus und die Funktionen im Haus. Jürgens­sens Zeich­nungen offe­rieren uns kritisch ein Panorama der sozialen Positionen der Frau, der Rollen und Funktionen, welche die Frau in der Gesellschaft gezwun­genermaßen einnimmt. Jürgenssen antizi­piert damit femi­nisti­sche Kunst­praktiken der 80er Jahre, wie von Cindy Sherman. Die Methode, die sie dabei verwendet, ist zum Teil surrea­listi­schen Ursprungs. In ihren Maske­raden, Iden­ti­tätswandlungen und Denunziationen kultureller Stereotypen läßt sie sich jedoch nicht auf die männliche Erotisierung des weibli­chen Körpers und die geschlechtliche Kategorisierung ein, sondern wie Claude Cahun, auf die sie sich früh beruft, erkennt sie die scheinbar natürliche Weiblichkeit als eine soziale Konstruktion unter dem Diktat der Männer. Jürgenssen entschlägt sich dieser Diktatur, indem sie sich der hausfrauli­chen Identifizierung ihres Körpers und ihrer sozialen Funktion verwei­gert. Jürgens­sens Zeich­nungen zeigen uns die Effekte der Domestikation, wie sie bereits Fried­rich Engels (2) in seinem berühmten Werk über den Ursprung der Familie, des Privat­ei­gentums und des Staates analysiert hat. Engels identifizierte die mittelständi­sche Familie als Organisati­ons­einheit innerhalb der kapi­ta­listi­schen Ökonomie, die der Reproduktion von Arbeits­kraft diente. Die fort­schreitende Indus­trialisierung verla­gerte die Produktion von Gütern immer mehr außerhalb des Hauses in Fabriken, sodaß schließlich die Männer die eigentliche Arbeit in den Fabriken leisteten und die Haus­arbeit daher nicht mehr als eigentliche Arbeit galt und dement­spre­chend auch nicht bezahlt wurde. Die Haus­arbeit, von Frauen verrichtet, gilt nicht als Lohn­arbeit. Indem der Mann allein das Geld nach Hause bringt, das für den Einkauf von Gütern notwendig ist, wird die Arbeit der Frau im Haushalt entwertet und somit auch die Position der Frau. Femi­nisierung und Hausfrau-Codifizierung, so zeigt uns Jürgenssen deutlich, sind daher pejo­rative Prozesse innerhalb des kapi­ta­listi­schen Welt­systems (3). Ihre Zeich­nungen machen das sozial Unsichtbare sichtbar, nämlich die Legitimierung einer sozialen Hier­ar­chie durch die Tren­nung in starke und schwache Geschlechter. Die Diktatur der Geschlech­tertren­nung bzw. der Geschlech­ter­differenz verdrängt und verheimlicht eine viel ursprüng­l­i­chere Tren­nung der Menschen nach Klassen­un­ter­schieden. Die Frauen bilden das soge­nannte schwache Geschlecht, sie bilden den schwäc­heren Teil einer sozialen Ordnung. Die Geschlech­ter­differenz ist also ein Mechanismus der Unter­drückung der Frau, ein Mechanismus zur Errich­tung einer Klassen­ord­nung, in der die Frau dem Mann unter­ge­ordnet ist. Die Frauen leben in einem sozialen Raum, wo sie für gleiche Arbeit weniger Geld bekommen als Männer, oder für billigen Lohn in niederen Rängen schwierigere Arbeit leisten, oder wo ihre Haus­arbeit nicht einmal als Arbeit honoriert wird und daher unbezahlt bleibt. Der weibliche Körper ist also im Grunde ein Territorium der männli­chen Hege­monie und damit ein Feld der Kolonialisierung. Die Kleider und die Tätigkeiten der Frau in den Zeich­nungen von Birgit Jürgenssen fungieren als ethnografi­sche Verweise auf die Fremdbe­stimmung der Frau, als Verweise auf den Körper und das Geschlecht der Frau als ethni­sches Territorium. Diese Ethnifi­zierung der Frau als minderwertig und marginal, z.B. als Hausfrau, wird norma­lerweise als Klassentren­nung unsichtbar gemacht, indem sie als Geschlech­ter­differenz ausgegeben wird. Jürgens­sens Zeich­nungen sind Spiegel dieses sozial Unbewußten und Verdrängten. Sie zeigen die sozial konstruierte Weiblichkeit als Leidens­spur einer jahrhunderte­alten Diktatur. Zeigt Jürgenssen sich selbst mit einer Küchen­schürze in Form eines Herdes, so wie später in den 90er Jahren Rose­marie Trockel Bilder und Skulpturen in Form eines abstrahierten Herdes macht, so revoltiert sie damit gegen die "Semiotik der Küche", wie Martha Rosler 1975 ihre klas­si­sche Video-Performance nannte. Zeigt Jürgenssen sich selbst immer wieder als putzende Hausfrau, so weist sie ebenso eindrucksvoll wie schmerzlich auf den Zusammenhang von Schmutz und Domestikation (4) hin. In ihren Zeich­nungen erscheinen die Körper der Frauen, Mütter und Töchter als unfa­miliäre Körper, als Fremdkörper und denunzieren damit die Fremdbe­stimmung der Frau durch die männliche Kolonisation des weibli­chen Körpers, auch in seinen sozialen Funktionen. Die Hausfrau erscheint in Jürgens­sens Zeich­nungen als ethni­sches Produkt, als Produkt von Rassismus, aufge­baut auf der Klassen- und Rassentren­nung als Geschlech­tertren­nung. Ihre visuelle Kritik an kulturellen Stereotypen, an der Ethnifi­zierung und Kolonisierung der Frau in der kapi­ta­listi­schen Kultur ist (femi­nisti­sche) Kunst höchsten Ranges.

1) Elfriede Jelinek. Michael. Ein Jugend­buch für die Infan­tilgesellschaft. 1972
2) Fried­rich Engels. Der Ursprung der Familie, des Privat­ei­gentums und des Staats. 1884
3) Immanuel Waller­stein. World Inequality. Origins and Perspectives on the World System. Montreal 1975
4) Phyllis Palmer. Domesticity and Dirt: Housewives and Domestic Servants in the United States, 1920-45. Phil­adelphia 1989. Dirt & Domesticity. Contructions of the Femi­nine. New York, Whitney Museum of American Art, 1992