Galerie Hubert Winter

William Anastasi: Subway Drawing 2-3-93, 13:00, 1993
Pamela Lee — in: Christine Mehring. Zeichnen ist eine andere Art von Sprache. Harvard University Art Museums, Cambridge, Massachusetts 1997.
Daco-Verlag Günter Bläse, Stuttgart. 1999

Die Annahme, Zeichnen beruhe auf visueller Wahrnehmung, wurde im 20. Jahrhundert radikal in Frage gestellt. Die Zufallsverfahren des Dadaismus begründeten wie die automatische Schaffensweise der Surrealisten oder die Blind Time-Zeichnungen von Robert Morris (1) eine neue Tradition von Werken auf Papier, die nicht-visuelle Prinzipien pikturaler Bildordnung entwickelte. In verschiedener Hinsicht erreichte diese Richtung in der Konzeptkunst der sechziger Jahre ihren Höhepunkt. William Anastasi, der in den Darstellungen der Zeit gewöhnlich übersehen wird, ist einer der Hauptvertreter dieser Richtung, insbesondere aufgrund der 1963 begonnenen Zeichnungen, die er selbst "unsighted" (ungesehen, unsichtbar) nannte.

Anastasis unsichtbare Subway-Serie entstand von 1977 an bis in die neunziger Jahre. Durch seinen Freund John Cage und dessen wegweisende Experimente mit Zufallsverfahren in Musik und Kunst angeregt, schuf Anastasi einige dieser Zeichnungen während seiner Fahrt mit der U-Bahn von der 137. Straße zu Cages Atelier in der Nähe der 18. Straße in Downtown New York. Mit einem Bleistift in jeder Hand und einem Zeichenbrett auf den Knien, die Ellbogen rechtwinkelig gebeugt, ließ Anastasi den fahrenden Zug mit seinen Beschleunigungs- und Bremsmanövern, Halten und Abfahrten die Linien auf dem Papier erzeugen. Die so entstandenen Zeichnungen gleichen verkleinerten Seismogrammen, die feinste Veränderungen in der Umwelt wiedergeben.

Das hier abgebildete Beispiel einer Subway-Zeichnung veranschaulicht nicht nur den Einbezug des Zufalls in ein Werk, sondern auch das den Künstlern von Anastasis Generation gemeinsame Interesse an phänomenologischen Fragestellungen: Es ist ein Kunstobjekt, das die Materialität seines Herstellungsprozesses ausdrückt. Die beiden dunkelsten Bleistiftzonen bezeichnen die Stellen, an denen sich die Hände des Künstlers am häufigsten aufhielten, während die Dichte der Striche auf die unablässigen Vibrationen des Zuges verweiset. Eine kleinere Zahl einzelner Striche durchquert diese Zonen von einem Bildrand zum anderen – sichtbares Ergebnis des Beschleunigens oder Abbremsens des Zuges.
Zum Verständnis der Subway-Zeichnungen sind die Leerräume ebenso wichtig wie die mit Strichen bedeckten Flächen. Der leer gebliebene untere Bereich der Zeichnung gibt die Stelle an, wo die Unterarme des Künstlers auf dem Zeichenbrett lagen. Die Abwesenheit von Zeichnen bedeutet paradoxerweise die körperliche Anwesenheit des Künstlers.


Anmerkungen:

1) Im Jahre 1973 begann Morris eine Serie von Bleistiftzeichnungen, bei denen er mit geschlossenen Augen und in beschränkter Zeit eine Aufgabe löste, die er sich zuvor selbst gestellt hatte.