Galerie Hubert Winter

HELMUT FRIEDEL. I'll be your mirror.
HELMUT FRIEDEL

I'll be your mirror.
In: Urs Lüthi, RUN FOR YOUR LIFE (Placebos & Surrogates). Lenbachhaus München. Hatje Cantz. 2000.

Die Arbeit von Urs Lüthi bewegt sich in spiralförmiger Aufwärtsbewegung, sie kreist dabei um ein zentrales Thema in dessen Mittelpunkt der Künstler selbst steht, und nähert sich dabei immer bedrohlicher und drängender den tatsächlichen Niederungen einer "glücklichen" Spaßgesellschaft, auch wenn die Bilder des Gewöhnlichen häufig unwirklich erscheinen mögen. Begonnen hatte diese Auseinandersetzung zwischen dem potentiellen Betrachter und Urs Lüthi mit Bildideen wie "I´ll be your mirror" von 1972, einem Bild, das Lüthi jetzt in diesem Buch und in der Ausstellung seiner neuen Arbeiten als Zitat und Erinnerungsstück aus der eigenen Geschichte aufgreift. Zwei Jahre früher noch war die Fotoarbeit "Lüthi weint auch für Sie" entstanden. Mit diesen Selbstbildnissen, die trotz ihres verführerischen Anscheins kaum Berührungspunkte mit rein narzisstischer Selbstspiegelung haben, leitet Urs Lüthi eine Auseinandersetzung mit seinem allgegenwärtigen Gegenüber ein, dem alltäglichen, das er nicht als etwas Fremdes sieht, sondern das er zu seiner Welt macht. Er kündigt in den ersten Arbeiten bereits an, welche Funktion er als Künstler in der Gesellschaft einzunehmen gedenkt: Spiegel für jedermann zu sein. Indem er dazu bekennt, auch die notwendig anfallende Trauerarbeit zu übernehmen, eröffnet er einen fast ungehemmten und grenzenlosen Spielraum für seine Bilder. Lüthi stellt uns als nicht nur sein Bildnis zu Verfügung; er schlüpft und wächst in die unterschiedlichen Rollen, zum Beispiel als Frau unter anderem in der Fotosequenz "The numbergirl" von 1973; dann wiederum versteckt er sich hinter dem Profil eines anderen, ähnlich aussehenden Menschen in "My face behind Eckys face" von 1974; ist mal jung und schlank, dann älter und fett. Er fordert und auf "Treat me like a stranger" , 1974, um so Neugierde sowie die Ablehnung des Fremden auf sich zu lenken. Lüthi leiht uns als sein sich wandelndes Aussehen wie eine Gestalt aus der griechischen Mythologie. Nach dieser hatte der Gott Protheus die Fähigkeit, in nahezu jede Gestalt zu schlüpfen, sich ständig zu wandeln und damit unfassbar zu sein. Urs Lüthi will aber genau das Gegenteil. Er will ja unser Spiegel sein und auch für uns weinen; das heißt, er will sich nicht nur Täuschung entziehen, sondern durch seine Präsenz das zeigen, was wir in Wirklichkeit sind und was wir nicht akzeptieren können. Dafür trauert er auch noch an unserer statt. 
Evident wird dabei, dass seine Bildsprache allein in der Verbindung mit dem geschriebenen Wort funktionieren kann. Die Textteile, meist grammatikalisch einfache Sätze in englischer, deutscher, gelegentlich in italienischer Sprache treten neben und in das Bild. Sie wenden sich an den Betrachter mit einer Eindeutigkeit und Direktheit, die das Bild in seiner Ambiguität nie haben kann. Aber erst durch das Bild, das Selbstbildnis des Künstlers, wird der Satz auch zu einer glaubhaften aussage, wird konkret und zugeordnet, weil ein bestimmter Mensch dahinter steht. Er erhält seine Geschichte und gibt dem Bild dadurch Leben. Siegfried Kracauer erarbeitet sehr genau den Unterschied zwischen dem fotografischen Bild und der Geschichte eines Menschen, der im Bild festgehalten ist. In seinem Essay "Die Photographie" bemerkt er: "Unter der Photographie eines Menschen ist seine Geschichte wie unter einer Schneedecke vergraben." Es scheint, als suche Urs Lüthi in seiner Arbeit diese "Schneedecke" von Bild unseres Lebens zu liften. 
Hatte beispielsweise Joseph Beuys in seinem Environment "zeige deine Wunde" von 1974/75 den Betrachter durch den Text auf den Schultafeln demonstrativ aufgefordert, als wollte er einen Schüler belehren, seine Verletzbarkeit und Verletztheit zu zeigen und zu bekennen, bleibt Lüthi bei einem fast melancholisch lautenden "Ich werde dein Spiegel sein", nichts fordernd, nichts erwartend und dennoch von einer unausweichlichen Präsenz. "Today is the first day of the rest of my life", 1972, entkleidet jede Darstellung aller Dekoration und weist unmittelbar auf die Endlichkeit des Lebens, wohl auch auf die Vergeblichkeit des Handelns. 
Diese "spiegelnde" Anwesenheit hatte Lüthi zuerst auf beeindruckende Art und Weise in der Luzerner Ausstellung "Visualisierte Denkprozesse" von 1970 bewiesen. Damals zeigt er in den Räumen des Kunstmuseums seinen gesamten Besitz. Seine Kleider hingen an den Wänden, sein Reisepaß, seine Schlüssel etc. wurden in einer Vitrine ausgestellt. Der Künstler legt seine Identität offen auf den Tisch. Jeder konnte vergleichen, ob er mehr oder weniger besaß, ob er schönere oder hässlichere Dinge sein Eigen nannte, ob er nützlichere oder zwecklosere Sachen hatte. Urs Lüthi setzte den Betrachter also einer Situation aus, die sonst nur nach einem Todesfall vorkommt, nämlich über den Besitz eines Menschen ungestört verfügen zu können, was unausweichlich mit einem Gefühl von Beklemmung verbunden ist. Auch wenn dieses Besitzergreifen in der Ausstellung nur mit den Augen möglich war, hatte das vollständige Nebeneinander der "Waren" den Charakter des Verfügbaren. Diese Erniedrigung, die mit der vollständigen Entäußerung zumindest in einer vom Besitz regulierten und beherrschten Gesellschaft einhergeht, begleitet das "Lüthi weint auch für Sie" mit einer "vage(n) erlösergeste" (Max Wechsler,1999) - man könnte in diesem Zusammenhang etwa an das Werfen des Loses über das Kleid Christi denken. 
An dieser Grundhaltung hält Lüthi bis heute fest, auch wenn viele seiner Zwischenschritte wie Ausweichmanöver in eine "bessere" Welt erscheinen mögen. So entstand unter dem Titel "Universelle Ordnung", 1989, Gemälde auf Leinwand und Hinterglasbilder großen Formats, die scherenschnitthaft den Weltkreis und ornamentale Formen zeigen. Zu diesen Bildern der großen Ordnung, in denen unverkennbar ein Sinn für Symmetrie vorherrscht und bei denen Urs Lüthi auch auf Sternbilder (Ursus minor und Ursus maior) zurückgreift, gehören auch die Darstellung von Geld (Münzen und Scheine) sowie Fotobilder zerborstener Glasscheiben. Diesen großen Systemen stellt Lüthi sein eigenes Portrait gegenüber, als Bronzeguß auf hohen Betonsockeln oder auf Konsolen, meist den Blick abgewandt, zur Wand schauend. Sein Blick ist dabei selbstversunken, melancholisch lächelnd, also nicht in der klassischen Pose, sondern eher grimassierend und ganz er selbst. Er scheint hilflos und arm angesichts der Größe, die sich vor ihm ausbreitet. So beruft sich Lüthi in diesem Kontext auch auf 20 Bücher, "die meiner Arbeit Impulse gaben" und die er als sein "Geistiges Inventar" bezeichnet. Dazu gehören Schriften über Künstler wie Rembrandt, Brancusi, Maillol, Léger, Moholy, Man Ray, Outerbridge, Picabia, Feuerbach, Ozenfant und Duchamp, sowie Publikationen über die Kunst der Renaissance und das Bauhausm aber auch Texte von Gottfried Benn und Pier Paolo Pasolini, die Zeitschrift "Minotaure" und ein Buch über die Filme von Laurel und Hardy. Urs Lüthi gibt mit der Publikation dieser Titel im Katalog seiner Ausstellung im Helmhaus, Zürich 1990, seinen geistigen Hintergrund, seine Bezugspunkt bekannt. Wenn er die Bilder zudem in der genannten Ausstellung zeigt, als "Bestandteil einer ideellen Skulptur, bestehend aus Vitrinen, Texten, Fotos, Büchern usw.", dann wiederholt er den Ansatz der Luzerner Ausstellung von 1970 nun auf der Ebene der geistigen Besitztümer. 
In der Serie "Universelle Ordnung" verzichtet Lüthi auf die Textbeigabe im Bild, statt dessen liefert er, wie geschildert, ein Konvolut inhaltlicher Bezugspunkte. Die "Universelle Ordnung" bedeutet für Lüthi eine Rückkehr aus dem malerischen Exkurs, den er zu Anfang der 80er Jahre eingeschlagen hatte, und eine wieder zunehmende Hinwendung zum fotografischen und Bild. Seine Malereien, die in der Serie der "Grossen Gefühle" eine für damalige Verhältnisse ungewohnte, ja für viele eine nicht leicht nachvollziehbare Richtung genommen hatten, denn Lüthi malt nicht expressiv "wild", sondern rational planend, eher in einer gedanklichen Nähe zu den Bildüberlagerungen von Francis Picabia. In dieser Art zu Malen suchte Lüthi das Thema "Sehn-Sucht (Facetten eines Selbstportrait)" darzustellen. So lautete jedenfalls der Titel seiner Ausstellung in Kunstmuseum Winterthur, 1986. Dort brachte er "das weite Spektrum seiner bisherigen malerischen Errungenschaften in mehreren geschlossenen Gruppen gewissermaßen zu einer vollendeten Darstellung. Die Schlüssigkeit des Unternehmens zeigt sich nicht zuletzt in der Organisation der thematisch besetzten Werkgruppe als "Selbstprtraits aus der Serie der grossen Gefühle", "... der Telephonzeichnungen", "... der grossen Abenteuer", "... der Traumpaare", "... der vertauschten Träume" und "... der reinen Hingabe", die nicht nur eine Art Katalog seiner Motivwelt bildeten, sondern im Ablauf der Ausstellung untereinander auch vielfältig dialektische Beziehungen entwickelten, die sich am Ende bis ins einzelne Bild hinein weiterverfolgen liessen." (Max Wechsler, 1999) 
"Another reality" von 1995, eine Serie von jeweils neunteiligen Bildern, bedeutet erneute Hinwendung zur Fotografie als primärem Darstellungsmittel. In diesen Bildern ist neben dem genannten Titel jeweils unten links, auf einer Tafel das Künstlerportrait als Foto nach einem Bronzeguß zu sehen. Dieses Bildzeichen erscheint in der Folgezeit, etwa im Zusammenhang mit dem Logo "Art for a better life" auf den Schrifttafeln, ebenso auf den Tassen und Frisbees wie eine Signatur. Lüthi handelt in dieser Werkgruppe "Another reality" alle klassischen Bildthemen ab, vom Portrait über das Stilleben, die Tierdarstellung und das Interieur, Stadtbild und Landschaft, selbst die Darstellung von Geld, Wissenschaft und Tod gehören noch in diesen Kontext der großen Bildthemen. Insgesamt lässt sich in den 13 Tafeln ein Reigen des Lebens ablesen, eine hochgradig stilisierte und überhöhte Beschwörung von Schönheit und Glück.
Die Benennung der "richtigen" Einstellung zum Leben und seine Erfordernissen, denen sich der Mensch zu stellen hat, wird zunehmend zum Kommentar, der die Bilder Lüthis begleitet. Wie im barocken Emblem, in dem erst aus dem Zusammenspiel von Bildzeichen und Motto eine neue Einheit entstand, die sowohl Wort als auch Bild an jeweiligem Informationsgrad übersteigt, setzt Lüthi nun auf Sätze aus der "Therapie", denen alle eine glückverheißende Botschaft gemein ist. Häufig fügt er sogar noch den Begriff "Exercise" hinzu, wobei der eigentliche Satz eine Zuordnung schafft und gleichzeitig einen Anwendungshinweis enthält. Diese kurzen Lehrstücke ersetzen eine wirkliche Auseinandersetzung und Beschäftigung mit einem komplexen Problem, etwa in längeren und kontrovers argumentierenden Diskursen in Form von Aufsätzen oder Büchern. Die Kürze des Textes macht die Aussage lapidar und bietet kaum eine Chance, sich ihr zu entziehen. Sie ist so allgemein wie banal, dass sie unmöglich als falsch bezeichnet werden könnte; sie lässt einfach keine Frage zu. Hierin ist die Botschaft den Leuchtschrifttexten von Jenny Holzer verwandt, die aber mehr auf die Flüchtigkeit der Aufnahme ihrer "Truisms" setzt und in der Buntheit der Lettern ein System von Behauptungen aufbaut, während Lüthi für seine Schriften sehr unterschiedliche formale Lösungen entwickelt und Wiederholungen derselben Sätze simultan zulässt. Gemeinsam ist aber beiden Positionen, dass es sich um höchst allgemeine Aussagen handelt, also nicht um individuelle Botschaften der Künstler. 
Die Texte sind bei Lüthi deutlich zu lesen, erscheinen auf den Wurfscheiben, um als bunte Botschaften durch die Luft zu segeln - so jedenfalls die mit den Frisbees verbundene Vorstellung, oder um auf Kaffeepötten täglich konsumiert zu werden: "Change your life", "Have it now", "Live your dreams" und so fort lautet es da. Lüthi verdichtet seine Texte in anderen Bildern zu bunten Flächen, in denen sich Texte in unterschiedlicher Größe und Farbe überlagern. "I got the power", "I am beautiful", "I am sexy", "My mind is open" etc. Diese Flut an Propaganda des Wohlbefindens und der Selbstbehauptung konfrontiert Lüthi mit den Fotobildern des Gewöhnlichen: Urlaub, Freizeit, Wohnen, Familie. Das Banale, von jedem Erfahrene, hat gegen das "Aufbauende" der Sätze zu kämpfen. "Another reality" oder "Die eine oder andere Wahrheit" wirft Urs Lüthi dann wieder dazwischen, baut Ordnungen erneut auf, zeigt uns seine Bilder in seinem privaten Wohnbereich; so könnte sie funktionieren, so sieht meine Welt der Kunst aus, das ist mein Versuch, Ordnung in meiner unmittelbaren Umgebung zu schaffen. Aber daneben konfrontiert Lüthi uns auch wieder mit Bildern des privaten Vergnügens am Stand, im Pool, auf der Skipiste. Und als wäre dies alles nicht schon genug oder zuviel, zeigt er uns auch noch die Überwachungskameras, durch die inzwischen alle Bereiche unseres Lebens, auch der Strand, die Freizeit, die harmlosen, einfachen Freuden überwacht werden. 
"Run for your life", der Titel dieser Ausstellung, benennt in extremer Weise den Status quo; die zunehmende Beschleunigung, an der wir aktiv wie passiv teilnehmen. Urs Lüthi rennt in dieser Ausstellung in einer Videoinstallation über vier Monitore, er läuft aber selbstverständlich auf einem Laufgerät. Diese Gymnastikmaschine, die fatal an das Laufrad für Hamster erinnert, veranschaulicht die Sinnlosigkeit der Bewegung, die mehr an Folter, denn an irgend ein Vergnügen erinnert. Am Ende der Laufübung zeigt auch Lüthi die Titelseiten-Beauty eines Sexmagazins, auf die er /vergebens) zurennen möchte, während am Anfang bereits ein Totenkopf in Großaufnahme als unübersehbares "memento mori" steht. 
Ein Gläserschrank mit 150 Bildtassen und hohe Stapel bunter Frisbees zeigen die "Placebos". Dies sind in wörtlicher Übersetzung des lateinischen Wortes, "Ich werde gefallen" , trügerische Ersatzstoffe ohne jeden tatsächlichen Wirkstoff. Sie sollen in uns das gute Gefühl evozieren, das wir benötigen, um mit der Realität auszukommen. "Ich werde gefallen" sagen einem auch die "Leersätze", die alle dem "Smiley"-Denken entsprungen sind. Sie sind die "Surrogate", die Ersatzstoffe, die uns von den wirklichen Bedürfnissen entwöhnt halten. Der Ersatz tritt an die Stelle der Befriedigung. Lüthi bietet hier als Placebos "Art for a better life" an. Seine Botschaft funktioniert aber nicht im Sinn der Werbung, sondern als Kunst. Und hier schafft die Distanz zwischen dem Bild und der Wirklichkeit ein Moment der Freiheit. Denn der Betrachter wird mit Bildern der Wirklichkeit konfrontiert, und zu diesen gehören hier auch die Texte mit ihren vielfältigen Angeboten. Sie sind eben nicht Werbung, im Sinne der Werbung für ein bestimmtes Produkt, sondern im Grunde Fragen, denen sich der Rezipient stellen kann und für die er seine eigenen Antworten entwickeln soll. Für die Umsetzung seiner Bildgedanken greift Urs Lüthi zu technischen Verfahren, die auch in der Werbung angewandt werden, etwa Fotovergrößerungen auf festen Bildträgern. Allerdings beginnen die Unterschiede unmittelbar mit den ersten Schritten der Bildproduktion. Während das Bild in der Werbung nur für die kürzeste Dauer und für den sekundenschnellen Blick erstellt wird, sind seine Ausführungen auf Zeit ausgerichtet, die dem Bild nach abendländischer Tradition zukommt. Entsprechend richtet Lüthi seine volle Aufmerksamkeit auf die präzise Ausführung seiner Bilder und setzt damit auf klassische Vorstellungen von Ordnung sowie auf Übereinstimmung von Form und Inhalt. Damit entzieht Urs Lüthi letztendlich seine Entwürfe und Bildkonzepte dem raschen Vereinnahmen; denn seine Werke halten dem zweiten Blick stand, ja fordern diesen. Manches Bild täuscht durch die Vertrautheit seiner Abbildung über den Hintersinn und die Tiefgründigkeit des Werkes. Es ist eben nicht bloß eine Aufnahme, die uns Lüthi in der Vergrößerung vorstellt, sondern eine Bild, das er und mittels der Fotografie zeigt. So erscheinen seine Bildtafeln durch einen flachen Kasten, auf den sie montiert sind, vor der Wand zu schweben. Indem die Seiten dieser Kästen aber nach innen abgeschrägt sind, hebt sich das Bild klar von der Wand ab, ohne dass die Körperlichkeit des Trägers sich aufdrängen würde. Durch die farbige Fassung dieser unsichtbaren Seiten mit leuchtendem Rot entsteht im Widerschein auf der Wand ein lichter Farbraum um die Fotobildtafel; eine Aura, in der das Bild nicht mehr unmittelbar zur Wand gehört und sich deshalb von dieser Realität abzuheben scheint. Urs Lüthi behandelt dabei seine "Schriftbilder" genauso wie die Fotobilder, vermeidet damit eine Hierarchie der Formen. Durch die Plazierung der Bilder auf der Wand wird deutlich, dass Lüthi hier nicht das Tafelbild als losgelöste Einheit begreift, innerhalb deren Bildfläche das "ganze" Bild sich zeigen könnte, sondern seit jeher an ein System mehrerer Bilder, an Serien oder Bildgruppen denkt, die in wechselseitigen Bezug zueinander ein Ganzes darstellen. Bei den neueren Fotobildern begleiten die Texttafeln oder die Frisbeescheiben das große Abbild und besetzen so zusammen die ganze Wand, beziehungsweise den Raum. Urs Lüthi geht bei all seinen Bildern mit größter Präzision zu Werk; jeder Zufall oder Willkür bleibt außerhalb seines Kalküls. Seine großen Bilder ornamentaler Formen etwa aus der Werkgruppe der "Universellen Ordnung", die er teilweise als Hinterglasbilder gemalt hat, entziehen sich nahezu der "Lesbarkeit" als Gemälde. Sie erscheinen so präzise, dass man kaum noch an eine eigenhädnige Ausführung mit dem Pinsel denkt. Urs Lüthi verbindet in einer Skulptur aus Beton Hirn und Herz des Menschen, als wollte er damit denkmalhaft demonstrieren, welch enge Verbidnung seiner Vorstellung nach beide Orte von Empfindung und Imagination im Menschen einnehmen müssen. Dabei wird Lüthi nie sentimental, sondern bleibt - wie es sein Material, Beton, handgreiflich und anschaulich zeigt, hart und klar. Als "glasklare" Lösung zeigte er in der Ausstellung "Run for your life" seinen Portraitkopf aus transparentem Glas, in dem der blaue Glaskopf der archaischen Skulptur der Sphinx vom Aginatempel steckt. Neben der engen verbindung von Herz und Hirn ein Ineinander, ein Durchdringen und Überlagern von Individualität und Typischem, von Gegenwart und Vergangenheit, von Künstler und Kunstwerk, von Mann und Frau, von Verletzbarem (Mensch) und Verletztem (Fragment). Ein Traumbild von der Sehnsucht nach dem eigenen Wesen.
In diesen Bildwerken erhebt sich Lüthi auf nahezu klassische Art durch die Bildvorstellung wie durch deren Ausführung über die Produktionsprozesse für Werbung und Massenartikel. Gleichzeitig liefert er uns aber seine Texte zusammen mit dem Markennamen "Art for a better life" und seinem Portraitsignet auch auf bunten Frisbeescheiben, und zwar nicht nur in einzelnen Farbkreisen an der Wand hängend, sondern zu beachtlichen Stapeln aufgetürmt wie für den Transport und massenhaften Verkauf bestimmt.
Das Banale und das Erhabene durchkreuzen sich im Werk von Urs Lüthi von Anfang an. Auf der einen Seite scheint Urs Lüthi darum bemüht, all die sich bekämpfenden Eindrücke und Vorstellungen seines Lebens zu ordnen und zu erfassen. T.S.Eliot spricht in seinem großen Gedicht "The Waste Land" davon, wenn er sagt:"All these fragments I have shored against my ruins...". Von zahllosen Aufnahmen ausgehend baut Lüthi seine Erinnerungsbilder aus den Fragmenten am Computer zu Bildern zusammen, die so aussehen, wie er die Wirklichkeit gesehen hat. Lüthi sucht nicht Neues, Unmögliches, Bizarres und Fremdes in seinen Fotobildern zu schaffen, sondern ordnet "against my ruins" die Bruch- und Versatzsstücke aus der Wirklichkeit. So entstehen "natürliche Künstlichkeiten". Auf der anderen Seite entwickelt er bewusste Ordnungssysteme, Bildideen deren Künstlichkeit unmittelbar einsichtig ist, die aber wiederum so selbstverständlich erscheinen, dass man sie mit "künstlicher Natur" umschreiben kann. So kreisen seine Werke um diese beiden Pole - voll Melancholie um die verlorenen Mitte.