Galerie Hubert Winter

Beginning again (1995)
Elisabeth Grossmann — Marcia Hafif, From the Inventory. Haus für konstruktive und konkrete Kunst, Zurich. 1995

In den siebziger Jahren zeichnete sich, überraschenderweise sowohl in den USA als auch Europa, vorerst vereinzelt, zunehmend als Bewegung zu erkennen, das Phänomen einer Neuen Malerei ab. Ein scheinbar totgesagtes Medium kehrte somit, rund zehn Jahre vor der polaren Gegenbewegung der Wilden Malerei, ins Zentrum der künstlerischen Untersuchungen zurück. Bereits zu Beginn wurde die neue Position von verschiedenen Kunsttheoretikern, erklärtermaßen aber von den Künstlern selbst, theoretisch unterlegt. Definitionen wie Analytische Malerei, Fundamental Painting und Ausstellungen mit dem Titel Bilder ohne Bilder oder Malerei/Malerei machten deutlich, daß es sich um eine Bewegung handelte, welche die Malerei als selbstbestimmt (selbstreferentiell) verstand und die Fragestellung auf ihre grundlegenden (fundamentalen) Gesetzmäßigkeiten richtete. (1) Auch wenn die einzelnen Theorien divergierend und damit die Gruppierungen für die betreffenden Ausstellungen unterschiedlich waren, zeigte sich, daß das scheinbar ausgeschöpfte Medium Malerei, andersartigen Ansätzen unterzogen, eine neue Bedeutung innerhalb der aktuellen Kunst erhielt.

Die Bewegung löste in den achtziger Jahren eine Neuorientierung aus und ergriff vor allem auch jüngere Künstler in Europa und den USA. 1984 fand im Williams College Museum of Art (Williamstown/Massachusetts) eine Ausstellung statt, welche den Titel Radical Painting trug. Sie vereinigte elf Künstler aus Europa und den USA, u.a. Girke, Marioni, Morales, Umberg, als auch Marcia Hafif, deren kunsttheoretische Schriften viele der jüngeren Künstler beeinflußt hatten. Über die Wahl des Titels bzw. der Bezeichnung stand im Begleitkatalog zu lesen: "The adjective 'radical' in the title in the assemblage refers to the radices of Painting: paint and colour applied to a surface.” (2) Ohne Rückbezug auf die lateinische Wurzel läßt sich der Begriff jedoch ebensogut aus der gebräuchlichen Definition von 'radikal' als ausschließlich oder absolut verstehen, trifft diese doch ins Zentrum der gemeinsamen Haltung: radikaler Verzicht auf jegliche Botschaft, Untersuchung der Malerei ausschließlich aus sich selbst heraus. Radical Painting hat sich inzwischen als Begriffsbezeich- nung einer breiten Bewegung eingebürgert und umfaßt Vertreter, welche sich auf Farbe/Farbmaterie (colour und paint) konzentrieren und sich hauptsächlich innerhalb der Monochromie bewegen. Der gemeinsame Ansatz liegt in der Kritik an der Beliebigkeit und Verwässerung des heutigen Kunstgeschehens, der Frage nach der Autonomie der Kunst und der Verweigerung jeglicher Information, welche über den Gegenstand oder die Disziplin Malerei hinausweist. Fundamental innerhalb dieser Bewegung ist die Untersuchung der Bedingungen der Malerei als Vorgang und die Anknüpfung an die Autonomiebestrebungen der Avantgarde, wie sie etwa die konkrete oder abstrakte Kunst im Verzicht auf das Abbild der Wirklichkeit gegenüber der gegenständlichen Richtung verfolgte. Heute zeigt sich Radical Painting als komplexe Erscheinung, welche unterschiedliche Positionen beinhaltet und ausgehend von der Reflexion über den Sinn der Malerei die Frage nach der Kunst innerhalb eines ästhetisch-theoretischen oder philosophischen Kontextes beantwortet.
Auch Marcia Hafif entwickelte ihren Neubeginn in den siebziger Jahren - parallel zu den Vertretern der Analytischen Malerei, wenn auch damals ohne Kenntnis gemeinsamer Bestrebungen - aus der Reflexion über die Malerei und der Frage nach ihrer Bedeutung innerhalb der historischen Entwicklung. Durch das persönliche Interesse und den Aufenthalt in Europa sowohl mit der europäischen als auch der amerikanischen Kunst und Kunsttheorie vertraut, schrieb sie 1978, unter dem TitelBeginning again folgende Standortbestimmung: "The options open to painting in the recent past appeared to be extremely limited. It was not that everything had been done, but rather that the impulses to create which had functioned in the past were no longer urgent or even meaningful. Tracing magic images, storytelling, reporting, representing in a one-to-one relationship a scene or figure in paint - none of these acts was credible in the way it once had been. Abstraction appeared to be used up: expression through shape and colour was very familiar and had become meaningless. The process of flattening out the canvas had reached an end; formalist painting had soaked color into the canvas and moved shape to the edge; presenting an almost, but not quite, unbroken field. We no longer believed in the transcendency of paint and saw little reason to use the medium of painting for making art." (3)
Dieses nüchterne Urteil über die damalige Situation der Malerei, welches Hafif schriftlich niederlegte, konnte nur zwei Schlußfolgerungen nach sich ziehen: entweder gänzlich auf das Medium zu verzichten (was für einen Maler kaum ein wünschenswertes Ziel sein konnte) oder es von Grund auf neu zu untersuchen, um aus diesem Verfahren die Möglichkeit einer gültigen und damit auch sinnvollen Malerei wiederzufinden: "It was necessary to turn inward, to the means of art, the materials and techniques with which art is made. Artists still interested in painting began an analysis - or deconstruction - of painting, turning the basic question of what painting is, not so much for the purpose of defining as to actually be able to vivify it by beginning all over again. That question led to examination of the discipline of painting, the taking apart of it as an activity; it led to a restatement of what we already knew along with an investigation of it in depth. We pretended in a certain way that we didn't know anything about painting. We studied and rediscovered it for ourselves." (4)
Das Studium und die Wiederentdeckung der Grundgesetze der Malerei führten Marcia Hafif 1972 zu der Aufnahme des sogenannten Inventory, einer Art von Tractatus, in welchem die einzelnen Untersuchungsfelder aufgezeichnet wurden. Im nachhinein betrachtet, liest es sich gleichzeitig als eine künstlerische Konzeption (Theorie und Praxis), eine Bestandsaufnahme (von nunmehr rund sechzehn Gruppierungen) und als Rechenschaft als auch Reflexion des eigenen künstlerischen Standortes. Das von Hafif aufgegriffene System der Analyse (oder in diesem Zusammenhang der Dekonstruktion) richtet sich darauf, ausschließlich die konkreten Grundbedingungen der Malerei zu untersuchen und von da aus auf ihre Eigengesetzlichkeit zurückzuschließen. Untersuchung des Act of Painting nennt sie diese Vorgehensweise, welche darin besteht, schrittweise die einzelnen Überlegungen und Entscheidungen, welche die 'Handlung Malerei´ mit sich bringt, bewußt zu machen. Der Malprozeß wird in seine konkreten Einzelkomponenten aufgegliedert und jede für sich alleine und zugleich als konstituierender Teil der Gesamtheit 'Malen' aufgeführt: Material (Farbe, Bildträger), Größe (groß, mittel, klein), Format (hoch, quer, quadratisch), Werkzeug (Pinsel) und Struktur bzw. Handschrift des Künstlers.

The Inventory

Der Neubeginn führt vorerst von der Malerei weg und konzentriert sich, sozusagen als Basisarbeit, auf die Zeichnung. Erst in einem zweiten Schritt nimmt Hafif die Malerei neu auf. Schrittweise geht sie von einer Untersuchung zur nächsten, greift eine Fragestellung auf, die sich innerhalb der Disziplin des Malens ergibt und sucht für sich ausschließlich innerhalb dieses komplexen Tätigkeitsfeldes eine Antwort darauf, was den Act of Painting in sich selber bestimmt. Die Abfolgen von einer Gruppierung zur nächsten entsprechen keinem festgelegten System, sondern allenfalls dem, was man eine 'innere Logik' nennen könnte. Oft öffnet die Beschäftigung mit einem bestimmten 'Thema' einer Gruppe die Ausgangslage für die nächste; das kann sich sowohl auf die Wahl einer bestimmten Technik beziehen (Acryl, Öl, Aquarell), die Wahl einer Farbe als auch auf Aspekte der Präsentation (Einzelbild oder Gruppe); doch fließen ebenso Fragestellungen mit ein, welche sich aus allgemeinen kunsttheoretischen Studien oder aus bestimmten Erfahrungen an einem geographischen Ort ergeben.
Der pragmatische Blickwinkel, den das Inventory freigibt, dieses scheinbar nüchterne Vorgehen in einzelnen Schritten, der Bestimmung von Farbe, Material, Werkzeug und Struktur, könnte zur Schlußfolgerung führen, daß sich Hafif ausschließlich auf die Analyse des Mediums Malerei konzentriert. Doch war und ist dies nicht ihr Ziel. Es ist nicht der Denkprozeß, der sich in der Malerei erfüllt, sondern gleichermaßen die Erfahrung der Handlung. Erst im Geschehen des Malaktes entwickelt sich die Wirksamkeit der vorgegebenen Regeln und gleichzeitig auch die nicht vorhersehbare, nicht kalkulierbare Perspektive:"Decisions are made with reason and logic in order to bring about a situation into which the unintentional can enter. Rationally selected signs from a framework of meaning from which the painter works toward the unknown. Factors are set up, reasons for being, internal rules which are not imposed from the outside, but which function within a network of terms evolving from the work. Rules come into being through the process of thought and through the process of work, rules which are coherent within the terms of painting. Even so, all decisions are arbitrary to a degree; there is nothing about the painting which must be the way it is (other than enough of the basic elements so that we can call it a painting). And yet when a certain decision is made, others follow from them until finally every decision is a part of the whole." (5)
So eröffnet diese vermeintliche Einschränkung auf die Grundbedingungen des Malens ein komplexes Feld, das von pragmatischen Voraussetzungen ausgehend die vielschichtigen Ebenen der Tätigkeit Malen sichtbar macht. Es trägt gleichermaßen den materiellen Bedingungen Rechnung als auch jener künstlerischen Selbstbestimmung, die auswählt, handelt und erfährt. Hafifs Grundlagenforschung innerhalb des Inventory ist damit gleichzeitig Ziel und Weg; sie nimmt die Untersuchung von Materialität und Handlung, die zu der Erscheinung Malerei führen, auf und zeigt, daß das scheinbar Bekannte, das Feld der Tätigkeit Malen, eine noch zu erforschende Größe ist. Das Inventory zeigt sich als mentale und praktische Schlußfolgerung, wie sie sich als einzige gültige Lösung für den Ansatz eines Neubeginns ergab. Es war das Instrument, sich der Krise der Malerei zu stellen und sich gleichzeitig von allen Vorstellungen bezüglich der historischen und der aktuellen Kunst zu trennen. In ihm lag der stringente Ausweg, wirklich (und wirksam) von vorne zu beginnen und die Malerei - radikal - neu zu entdecken.

The Act of Painting

"Eine unendliche Geschichte" (6) hatte sich damit aufgetan, ein Feld, das durch das Bewußtsein um die Bedingungen die Freiheit der Bestimmung mit sich brachte, das von den Gesetzen der Malerei ausging, um an die Grenzen eben dieser Malerei zu stoßen. The Act of Painting zeigt sich damit als eine künstlerische Interaktion, welche in sich eindeutig, aber nicht systematisch, theoretisch als auch praktisch, rational und gleichzeitig poetisch ist.
Seit dem Ausgangspunkt ihrer Neuorientierung, damals im Kontext der Analytischen Malerei, welcher Hafif zugehörte, steht das Werk im Zeichen der gleichen Gültigkeit aller Komponenten, welche 'Male' definieren. Malerei zeigt sich stets als Beziehungsgeflecht, als Gesamtstruktur, welche sich aus einzelnen Teilen oder Ebenen zusammenfügt. Jede einzelne Entscheidung wird mit äußerster Sorgfalt vorgenommen und jeder Aspekt in Verbindung zu den weiteren und zur Gesamtheit gesehen. Allen diesen Entscheidungen oder Zusammenhängen liegt ein hoher Grad von Bewußtheit zugrunde, der nichts dem Zufall überläßt, sondern Handeln stets mit Reflexion verbindet. Das Ergebnis, das aus diesem Handeln entsteht, ist in seiner tatsächlichen Wirksamkeit erst im einzelnen Bild oder der entsprechenden Werkgruppe faßbar, auch für Marcia Hafif selbst. Und die Ausgangslage, die zu der nächsten Gruppe führt, mag in Ansätzen bereits vorhanden sein, ist jedoch nicht vorbestimmt. Einige der 'Themen', welche früher aufgenommen wurden, mögen für den jetzigen Zeitpunkt vollständig und damit abgeschlossen sein. Doch können sich aus früheren Erfahrungen neue Aspekte eröffnen, welche über einen Umweg oder die 'innere Logik' unter anderen Voraussetzungen neu einfließen. Die Untersuchung der Tätigkeit Malen kann und wird sich nicht in einer einzelnen Richtung erschöpfen, sondern entsprechend Hafifs Auffassung auf das umfassende Beziehungsfeld Malerei ausdehnen. So wäre es ein Widerspruch in sich, im Werk Hafifs nach einer konstanten Handschriftlichkeit, einer Form von Selbstausdruck zu suchen. Die Erscheinung Malerei ist von Gruppe zu Gruppe unterschiedlich, birgt die Spannweite zwischen den Black Paintings, den French Paintings, dem Wall Painting und den Glaze Paintings. Materialität, Größe, Format, Struktur und die Präsentation im Raum sind unterschiedlich, umfassen die jeweilig gültige Darstellung der zum Ausdruck kommenden Tätigkeit im Beziehungsgeflecht der verschiedenen Komponenten.

Versatility

Von dieser Haltung her nimmt das Werk von Marcia Hafif innerhalb des Radical Painting eine Sonderstellung ein. Nichts ist auf einen gleichbleibenden Ausdruck angelegt, auf eine individualisierte Sprache (eine spezifische Farbigkeit, einen spezifischen Duktus), welche das Werk nach außen hin abgrenzt, so wie es vor allem die jüngeren Vertreter innerhalb dieser Strömung anstreben. Versatility bestimmt die von Hafif eingenommene Haltung: das Erlernen, Erfahren und Bewußtmachen der Komplexität des Aktes Malen im Gleichgewicht zwischen den Bedingungen des Materials und der Handlung des Künstlers. Aus dieser Betrachtungsweise nimmt auch, im Gegensatz zu anderen Vertretern, die Farbe keine Vormachtstellung ein, weder im Sinne einer symbolischen Bedeutung, noch hinsichtlich einer persönlichen Empfindung. "Color for me is obviously important… Still I hesitate to be called a 'color painter' since so many other aspects of the work are of special interest to me. I see color to be one among many of the factors in my work… I usually determine colors in an objective way often using all colors or a varying group chosen because they exist, or because they have some quality in common, rather than by preference. Though colors do carry a symbolic value, that is not my direct concern. I often choose reds and blues because I like them, but even then I am not proposing any stereotypical meaning which can be connected with a color." (7)
So finden sich innerhalb ihrer Palette Farbtöne vor, welche auf den ersten Blick irritieren, wie z.B. das ungewöhnliche Rosa (hier im Zusammenhang mit dem Thema 'Haut'). Die Farbpalette ist nach allen Seiten hin offen, weil nicht Bedeutung suggeriert, keine metaphysische Ebene angestrebt wird, sondern allein die physische Präsenz dargestellt wird, präzise so, wie es die Farbbezeichnungen der Titel vermitteln: Indian Yellow oder Milori Blue.
Hafif geht von der physischen Präsenz aus, von dem, was der Gegenstand Malerei im Zusammenspiel von Material und Handlung des Künstlers offenbart; dabei ist jedes Werk sowohl in sich singulär als auch Teil jener Gruppe, welche eine bestimmte Handlungsweise manifestiert: Black Paintings ('Das schönste Schwarz') oder Glaze Paintings (Lasurtechnik). Eine feststehende Abfolge, wie sie bei einer in sich geschlossenen Serie die Regel ist, wird nicht angestrebt. Je nach der Situation des Raumes und der Gesamtkonzeption der Präsentation, werden einzelne Werke eher singulär oder im Kontext gezeigt: "Because I prefer this kind of versatility in painting I am able to enjoy the singularity which is operative when one painting is seen alone, and equally the multiplicity of a set of, for example, twenty paintings installed together." (8) Stets wird jedoch der Präsentation ein wichtiger Stellenwert eingeräumt; die Werke sind nicht nur sowohl für sich singulär als auch ein Teil der Gruppe, sondern, bezogen auf einen spezifischen Ort auch eine Raumkomposition: "Alone the painting is seen for itself, together it interacts with other colors. Paintings for me play more than this double role. A painting is an autonomous object, complete unto itself. It also functions as an area of color - from my palette - which will be used creating a larger 'painting' on the 'support' of the room in which it will be seen. It will be used to articulate that space, and hopefully without losing any of its own autonomy." (9)

Identity

Die Wirkung, welche Hafifs Werk und -präsentation auf den Betrachter ausübt, ist meist mit der Idee des Schönen und Absoluten verbunden. Das hohe Maß an Ästhetik, welches sich im Einzelwerk und in der Gesamtheit übermittelt, löst die Frage aus, ob nicht, trotz der pragmatischen Haltung, eine über die Erscheinung hinausgehende Bedeutung angestrebt sei. Hafif, für sich, strebt nichts an, das über das Dargestellte hinaus verweist. Die Ästhetik, die sich in ihrem Werk manifestiert, ist nicht Ziel der Malerei, sondern in der Materie selbst enthalten. In einem Interview auf ihre diesbezügliche Haltung angesprochen, gab Hafif zur Antwort: "Materials are beautiful seen in and for themselves. I do not set out to fulfill a preconceived idea of beauty, though I am happy when there is beauty in the result. I like the idea of elegance as it is understood in Physics, elegance as the fullest possible solution resulting from the simplest means." (10)
Dennoch geht es nicht um eine minimalistische Sprache oder die Neutralisierung des Gegenstandes: die Bedingungen des Materials in Verbindung mit der Handlung des Malers machen das Werk Marcia Hafifs aus. Darüber hinaus ist keine Botschaft und keine Selbstdarstellung gesucht. Was Hafif vermittelt ist nicht Selbstausdruck im Sinne einer Befindlichkeit, sondern Identity außerhalb von Persönlichkeit. Mit diesem Gegenstand, geschaffen innerhalb von Regeln und entwickelt in der Selbstbestimmung durch den Künstler, läßt sie den Betrachter alleine. Er sieht sich mit einem autonomen Gegenüber konfrontiert, das Teil der Identität des Malers ist und Teil der Wirklichkeit, der es zugehört. Es strahlt Materialität aus und ist mit allem verbunden, was seine Erscheinung in sich birgt: Farbe, Farbmaterie, Größe, Format und Struktur. Dies ist seine Essenz, seine ihm eigene Identität, welche es in der Betrachtung präsentiert. Der radikale Schritt, der sich in Hafifs Beginning again abzeichnet, der Prozeß, nochmals von vorne anzufangen, gilt auch für den Betrachter: Wenn er ihm folgen mag, so ist Hafifs Werk, nicht nur für die Autorin selbst, ein wirklich weites Feld.

Anmerkungen:
1) vgl. zu diesem Thema: Kunstforum international, 'Radikale Malerei', Band 88, 1987.
2)"Das Adjektiv 'radical' im Titel dieser Zusammenstellung bezieht sich auf die Wurzeln der Malerei: Farbmaterial und Farbigkeit, auf eine Oberfläche aufgetragen." Lilly Wei in: Katalog, Radical Painting, Williams College Museum of Art, Williamstown, 1984, S.12.
3) "Die Optionen, welche der Malerei in der jüngeren Vergangenheit offenstanden, schienen äußerst begrenzt zu sein. Nicht, daß bereits alles gemacht gewesen wäre, vielmehr hatten die kreativen Impulse, welche früher wirksam gewesen waren, ihre Dringlichkeit oder gar ihre Bedeutung verloren. Das Nachziehen magischer Bilder, Geschichtenerzählen, Berichte, eine Szene oder eine Gestalt eins zu eins malerisch abzubilden - alle diese Handlungen hatten ihre einstige Glaubwürdigkeit eingebüßt. Die Abstraktion schien ausgeschöpft: Der Ausdruck mittels Form und Farbe war ausreichend bekannt und bedeutungslos geworden. Der Prozeß des Auswalzens der Leinwand hatte ein Ende gefunden; die formalistische Malerei hatte die Leinwand mit Farbigkeit (color) getränkt und die Form an den Rand gedrängt, um ein nahezu, aber nicht ganz ungebrochenes Feld zu präsentieren. Wir glaubten nicht mehr an die Transzendenz des Farbmaterials (paint) und sahen kaum noch Gründe, zur Erzeugung von Kunst das Medium der Malerei einzusetzen." Marcia Hafif, Beginning again. In: Artforum, September 1978.
4) "Wir mußten uns nach innen wenden, zu den Mitteln der Kunst, den Materialien und Techniken, mit welchen Kunst gemacht wird. Immer noch an der Malerei interessierte KünstlerInnen begannen mit einer Analyse - oder einer Dekonstruktion - der Malerei: sie wandten sich der Grundfrage zu, was die Malerei ist, und zwar nicht so sehr, um sie zu definieren, als vielmehr, um sie wiederzubeleben, indem man ganz von vorne anfing. Diese Frage führte zum Studium der Disziplin Malerei, des Auseinandernehmens als Tätigkeit an sich; dies führte zu einer Neuformulierung dessen, was wir bereits wußten, wobei wir dies gleichzeitig in seiner Tiefe ausloteten. Wir gaben sozusagen vor, nichts über Malerei zu wissen, und wir studierten und entdeckten sie wieder ganz neu für uns." ebenda.
5) "Mit Verstand und Logik werden Entscheidungen getroffen, um eine Situation herbeizuführen, in welche das Unausbleibliche hineinspielen kann. Rational ausgewählte Zeichen bilden einen Bedeutungsrahmen, von welchem aus die Künstlerin sich zum Unbekannten vorarbeitet. Faktoren werden eingesetzt, Existenzgründe, innere Gesetzmäßigkeiten, die nicht von außen auferlegt sind, sondern in einem Netz von Bedingungen funktionieren, die aus dem Arbeitsprozeß heraus entstehen. Solche Gesetzmäßigkeiten entstehen aus dem gedanklichen und aus dem Arbeitsprozeß heraus und sind innerhalb der malerischen Bedingtheit kohärent. Trotzdem sind alle Entscheide bis zu einem gewissen Grad willkürlich; an der Malerei muß nichts so sein wie es ist (außer einer ausreichenden Zahl von Elementen, die sie uns als Malerei bezeichnen lassen). Und trotzdem folgen aus gewissen Entscheiden andere, bis schließlich jeder Entscheid ein Teil des Ganzen geworden ist." Marcia Hafif,Getting on with Painting. In: Art in America, April 1981.
6) Christoph Vögele, Marcia Hafif. In: Kunstbulletin 7/8, 1995.
7) "Farbe ist für mich wichtig, ganz klar… Trotzdem zögere ich, mich als 'Farbkünstlerin' bezeichnen zu lassen, weil mich so viele andere Aspekte am Werk besonders interessieren. Für mich ist Farbe bloß einer von vielen Faktoren in meinem Werk… Ich bestimme die Farben meist aufgrund objektiver Kriterien und setze oft alle Farben oder eine gewisse ausgewählte Gruppe ein, weil es sie gibt, oder weil sie eine gewisse Eigenschaft verbindet und nicht, weil ich sie bevorzuge. Obschon Farben symbolische Werte enthalten, bin ich daran nicht direkt interessiert. Ich wähle oft Rot- und Blautöne, weil ich sie mag, aber selbst dann geht es mir nicht um irgendeine stereotype Bedeutung, die mit einer Farbe zusammenhängen könnte." Marcia Hafif im Gespräch mit Elisabeth Grossmann, Juni 1995.
8) "Weil ich diese Art von Wandelbarkeit an einer Malerei vorziehe, kann ich mich an der Einzigartigkeit freuen, die sich ergibt, wenn ein Bild isoliert gesehen wird, und ebenso an der Vielfältigkeit einer Gruppe von, sagen wir, zwanzig zusammen ausgestellten Bildern." ebenda.
9) "Allein wird ein Bild als es selbst gesehen; mit anderen zusammen entsteht eine Interaktion mit anderen Farben. Für mich spielen Bilder mehr als diese Doppelrolle. Ein Bild ist ein autonomes Objekt, in sich selbst vollständig. Es funktioniert aber auch als ein Farbfeld – von meiner Palette –, das in ein größeres 'Bild' eingefügt wird – mit dem Raum, in dem es ausgestellt ist, als 'Träger'. Es wird diesen Raum artikulieren, hoffentlich ohne seine Autonomie einzubüßen." ebenda.
10) "Materialien sind an und für sich schön… Ich habe nicht die Absicht, eine vorgefaßte Idee von Schönheit zu erfüllen, obwohl ich mich freue, wenn das Ergebnis schön ist. Mir gefällt die Vorstellung von Eleganz, wie sie in der Physik verstanden wird: Eleganz als die bestmögliche Lösung, die sich aus den einfachsten Mitteln ergibt." Marcia Hafif in: Interview de Marcia Hafif par Ghislain Mollet-Vieville, Paris 1991, veröffentlicht im Katalog Karo-Dame, Kunsthaus Aarau 1995 (Übersetzung Andrea Leitner).