Galerie Hubert Winter

Tina Lechner
8. November – 21. Dezember 2019
Vor dem Abend, o, noch vor dem Abend….
Eine Schwalbe kommt herein.—
Laßt sie…laßt sie herein, die Schwalbe
Die letzten Zeilen. In: Gabriele D´Annunzio, Episcopo und Co. Novellen. Dt. v. M. Gagliardi. Berlin, S. Fischer, 1901.

Was am tiefsten im Menschen liegt, ist die Haut. […] Wir könnten graben, Doktor, aber wir sind ektoderm.
Paul Valéry (1)

Der Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin verfasste 1896, in Auseinandersetzung mit der Frage der Übersetzbarkeit der Skulptur ins Medium des Fotopapiers, einen Aufsatz mit dem Titel Wie man Skulpturen aufnehmen soll. (2)
Der interessante Aspekt dieses Aufsatzes liegt in einer normativen Setzung, dass ein Kunstwerk, nur eine Haupt-ansicht hätte, nämlich diejenige, „die der Konzeption des Künstlers entspricht.“ Dieses, durchaus auch problematische, monofokale Ideal einer Skulptur erlaubt jedoch, dass sich die Plastik in Linie, Fläche und Kontur auflöst und damit in die Zweidimensionalität aufheben lässt. Bezieht sich Wölfflins Text zwar auf die klassische Skulptur, so behält er aber eine merkwürdige Aktualität: Der Skulpturbegriff ab Mitte der 1960er-Jahre – beispielsweise in der Minimal Art – bezieht sich nicht nur auf die plastische Gestalt der Skulptur, sondern auch auf die Konfiguration des räumlichen Verhältnisses zwischen Betrachter*in und Skulptur. Liest man nun Wölfflins These gegen den Strich, so wie das Tobia Bezzola in seinem Text Von der Skulptur in der Fotografie zur Fotografie als Plastik (3) tut, dann eröffnet sich die gedankliche Möglichkeit des Erschaffens einer Plastik mit den technischen Mitteln der Fotografie.

Eine Annäherung mit diesem begrifflichen Apparat an Tina Lechners „fotografisches“ Werk liegt nahe. Die Objekte oder Requisiten, die mit den Körpern der Modelle interagieren, werden für und nur für die Kamera geschaffen und gewinnen ihren eigenständigen skulpturalen Wert erst in der Ablichtung mittels Kamera. Nur in diesem Verhältnis erschließt sich ihr Bedeutungskontext. Tina Lechners Arbeiten sind dadurch, dass der/die Betrachter*in sie nur in Form einer Fotografie zu sehen bekommt, auch von einer Monofokalität geprägt, d.h. wir können immer nur eine Ansicht der Arbeit sehen und kennen. Bislang war das die Ansicht von hinten, meist am Motiv abgewandter Kopf zu erkennen. Fotografien, die den ganzen Körper abbildeten – und den Übergang in die aktuelle Werkserie vorankündigten – erweitern das Verhältnis Figur–Hintergrund und beziehen eine Räumlichkeit mit ein. Dennoch waren auch diese nur in der Form sichtbarer Körper/Kopf–abgewandt komponiert. In der neu entstandenen Werkserie jedoch begegnen wir einer neuen Konfiguration: unsichtbarer Körper–zugewandt.

Kathy Battista charakterisierte den Körper in Tina Lechners Arbeiten folgendermaßen: […] body as an experimental surface, rather than as a distinctly female, idealized presence. (4) Dieses Experiment wird weiter vorangetrieben: obwohl scheinbar uns zugewandt, zeigen die Körper kein Gesicht, keine offensichtliche, menschliche Struktur. Die geisterhafte Präsenz der menschlichen, belebten Körper hinter oder unter den unbelebten Extensionen löst sich vollständig in Oberfläche und Materialität auf – darunter findet man weder Essenz noch Identität, bloß Faltungen und Ausstülpungen, Fransen und Überlagerungen von Haut, Kunststoff und Textil. In diesem experimentellen Gefüge finden sich dann auch noch Einflüsse aus der Mode und so trifft hier André Bretons „modernes Mannequin“, von dem er im Surrealistischen Manifest von 1924 spricht – das den Betrachter, angesichts seines Changierens zwischen lebendigem Objekt und lebloser, weiblicher Form, in Verwunderung stürzt – auf Lady Gaga: Dress me, I’m your mannequin […] Fashion put it all on me, don’t you want to see those clothes on me, fashion put it all on me, I am anyone you want me to be. (5)

Die Serie Susan told me II führt das Experiment mit der Oberfläche weiter und die reduzierten S/W-Fotografien begegnen uns zum ersten Mal in Farbe – handkoloriert, wie in den Anfangszeiten von Fotografie und Film. Die großformatigen Arbeiten vermitteln vage den Eindruck als hätten die Körper Posen vor einer Kamera eingenommen und evozieren ebenso Reminiszenzen an erste, historische Portraits. Der fotografische Akt wird in der Skulptur reflektiert. Somit stehen Tina Lechners Werke in einem Bezugssystem, in dem sich Fotografisches und Plastisches formal wie auch medial ständig aufeinander beziehen und sich erst in diesem Wechselbezug entfalten.


(1) Paul VALÈRY, 1960; dt. zit. nach Didier ANZIEU, Das Haut-Ich, Übersetzung: Meinhart Korte und Marie-Helene Lebourdais-Weiss, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1992, S. 85.
(2) Heinrich WÖLFFLIN, Wie man Skulpturen aufnehmen soll, in: Neue Zeitschrift für bildende Kunst, NF 7, 1896, S. 224–228; NF 8, 1897, S. 294–297; NF 26, 1914, S. 237–244.
(3) Tobia BEZZOLA, Von der Skulptur in der Fotografie zur Fotografie als Plastik, S.28–35, in: Roxana MARCOCI et al. (Hg.), FotoSkulptur: Die Fotografie der Skulptur 1839 bis Heute; erschien anlässlich der Ausstellung „The Original Copy ...“, The Museum of Modern Art, New York, 1. August–1. November 2010; „FotoSkulptur ...“, Kunsthaus Zürich, 25. Februar–15. Mai 2011; The Museum of Modern Art, New York/Kunsthaus Zürich 2010.
(4) Kathy BATTISTA, Beyond the Body, in: Tina LECHNER, Susan told me, Wien: VfmK Verlag für moderne Kunst 2019, S. 7.
(5) LADY GAGA, Fashion, 2009.