Galerie Hubert Winter

Laura Ribero
Catch Tales
4. Mai – 24. Juni 2006
Falls sie ausgeht, kommt sie herein. Falls sie nicht weggeht, ist sie da, und sie geht nicht weg. Sie trägt, nun vielleicht Schwarz warum nicht, und einen Hut, warum nicht, und einen anderen Hut, warum nicht, und ein anderes Kleid, warum nicht, lauter warum nicht.
Sie trägt einen anderen Hut, und sie trägt ein anderes Kleid, und Andrew ist zu Hause, und sie gehen nach Hause, und da sind sie. Sie sind da. Dank ihnen.
Ja.
Die letzten Zeilen in: Gertrude Stein, Ida. 1941. Dt.v.Marie-Anne Stiebel. Ffm, Suhrkamp, 1984.

Laura Ribero wurde 1978 in Bogota, Kolumbien geboren. Seit vier Jahren lebt sie hauptsächlich in Barcelona. In ihrer Master-Diplomarbeit von 2003 ging es um die fotografische Dokumentation eines Armenviertels mit hoher Wohnfluktuation in Barcelona.
Die neunteilige Fotoserie mit dem Titel electro domestica, die in der Ausstellung zu sehen ist, ist als selbstständiger Beitrag zu einem gemeinsamen Ausstellungsprojekt mit den Künstlern Alejandro Mancera und Luz Marina Trellez zwischen 2003 und 2004 entstanden. Die Künstlerin setzt sich darin selbst ins Bild und schlüpft dazu in die Rolle eines Hausmädchens. Die mutmaßlich gutbürgerlichen Besitzer des ansehnlichen Wohneigentums, das auf der Mehrzahl der Fotos ihre Umgebung darstellt, sind faktisch nicht sichtbar und scheinen doch mittelbar präsent. Klar weist sich die Bildprotagonistin in ihrer Dienstbotenuniform als Fremde in der Welt der Begüterten aus. Das Dienstmädchen ist zwischen perspektivisch monumentalisierten Küchenmöbeln eingezwängt. Die Rolle passt. Dabei bleibt hinter einer anrührenden, die Grenzen zum Sozialkitsch erkundenden Sentimentalität der Verweis auf real existierende Existenzmodelle bestehen. Gerade durch das Vorzeigen der Konstruiertheit des Rollenspiels, in der Überlagerung der Identitätsschichten von Schauspielerin und Künstlerin, welche wiederum zum eigenen (Foto-)Modell wird, gewinnt das – auch auf mehreren medialen Ebenen stattfindende - Szenario an spannungsvoller Intensität. Das eingefrorene Bild des fotografischen Mediums verdoppelt sich auf nicht weniger als drei der neun Fotografien noch einmal in der ‚selbstreflexiven’ Spiegelung, die auf einem Kühlschrank sichtbar wird. Eine Bildebene überlagert die andere. Noch eine weitere kommt hinzu, sobald man erfährt, dass es sich bei den kulissenhaften Interieurs tatsächlich um nichts anderes als das Set einer in Kolumbien populären Telenovela handelt. Sind einige der Fotos klar, geradezu streng geometrisch komponiert, so zeigen sich in der Bildfolge allmähliche Auflösungserscheinungen, die nicht nur das Formale, sondern auch den Inhalt betreffen. Beleuchtungskörper und die Ränder der Dekoration treten unvermutet ins Blickfeld, stellen das idealisierte, kohärente Bild der gutbürgerlichen Kulissen in Frage. Betrachtet man die Serie in ihrem Gesamtablauf, so drängt sich geradezu der Eindruck einer Filmsequenz auf, einer filmischen Narration, die uns freilich nicht bloß von den Sehnsüchten eines Hausmädchens erzählt, sondern die über Prozesse der Bilderproduktion selbst Rechenschaft ablegt. Die Fotografie wirkt dabei als analytisches Distanzmedium. Sie imitiert in der Reihung den filmischen Ablauf, um ihn rückwirkend zu dekonstruieren, um den Illusionismus der Fernsehepisode in seine Bestandteile zu zerlegen. Diese Bezugnahme auf den kollektiven Bildfundus der Generation der Fernsehkonsumenten erinnert wiederum an die Film Stills von Cindy Sherman. Bei Ribero steigt die Fotografin wie Alice im Wunderland durch den Märchenspiegel des Mediums Fotografie direkt in die Fernsehserie ein und etabliert mit ironischer Ernsthaftigkeit eine eigene Figur, die im Drehbuch der Soap-Produzenten gar nicht vorgesehen war.
Das 'Prinzip Aschenputtel' setzt sich in der neunzehnteiligen Fotoserie Looking for Wonderland – Auf der Suche nach dem Wunderland in ganz anderer Weise fort. Es verschränkt sich mit einem weiteren, doppelbödigeren Märchen: Alice im Wunderland von Lewis Carroll. Für dieses Projekt, das zunächst den Titel Nomadic Territory trug, hatte sich Ribero vorgenommen, das städtische Umfeld der Ruhrmetropole Essen auf Situationen und Prozesse des Übergangs hin zu betrachten. Nach erster Begehung der dem touristischen Mainstream folgenden und mit dem Prädikat ‚Weltkulturerbe’ ausgezeichneten Routen in und um Zollverein hat sie sich jedoch bald umorientiert, und zwar ganz im Sinne des ihr nahe liegenden Verfahrens einer urbanen Ethnografie. Von ihrem damaligen Atelier aus, dem ehemaligen Stellwerk auf Zollverein, Schacht 4/5/11, entdeckte sie bereits durch den Blick aus dem Fenster andere Ausgangspunkte. Direkt gegenüber liegt nämlich die Katernberger Fatih-Moschee. Sie fand zudem heraus, dass der Nord-Süd-Verlauf der alltäglich von ihr benutzten Straßenbahnlinie 107 auch ein innerstädtisches soziales Gefälle vor Augen führt. Die Fahrt vom gutbürgerlichen Süden zum Weltkulturerbe mündet gerade ins Zentrum des Stadtteils Katernberg, wo seit Schließung der Industrieanlagen die Umbrüche besonders markant sind. Ribero hat sich ausgiebig im Quartier umgesehen, um das Verhältnis zwischen Urbanisierung und Migrationsprozessen zu untersuchen.
Dadurch gelang es Ribero schließlich auch, von der zunächst eher dokumentarischen Perspektive zur künstlerischen Interpretation überzugehen. In Ergänzung der so entstandenen Fotos erschließt ein jedem Motiv speziell beigefügtes Zitat aus Alice im Wunderland eine zusätzliche Sinnschicht. Textinhalt und Bildmotiv stehen aber nicht im Verhältnis der Kongruenz, sondern der Parallelität. Text und Bild ergänzen, überblenden und erweitern einander, ohne ihre jeweilige Autonomie zu verlieren – ähnlich der Text- und Bildebene miteinander verschränkenden Traditionsform des Emblems. Die Alice aus Carrolls Text, die oft genug über die verwirrende Vielzahl von eigenen und zugewiesenen Identitäten zwischen Kindheit und Erwachsensein erstaunt ist, sie wird bei Ribero herangezogen zur Typisierung des Aufwachsens in einem Klima der Entfremdung und Randständigkeit, der Polarität und der Irritation unterschiedlicher Lebensaussichten oder Wertvorstellungen. In den Bildern von Ribero verschiebt sich das kindliche Unverständnis von Carrolls Alice, ihr Erstaunen über die grotesk anmutenden Rollenzuweisungen einer durch Fabelwesen repräsentierten Erwachsenenwelt, zu einem fortdauernden Gefühl von Fremdheit und Befremdung innerhalb der von identifikatorischen Brüchen geprägten Sozialisierung junger Migrantinnen in Deutschland. So stellt sich etwa eine von Riberos Alice-Figuren weitreichende Fragen nach der eigenen Identität. Es handelt sich um ein auf insgesamt sechs Bildern der Serie wiederkehrendes, etwa zehnjähriges Mädchen mit dem spanischen Namen Alicia, das mit einer altertümlichen Petroleumlampe bewaffnet vor verlassenen und vermauerten Hauseingängen den Eintritt in die Märchenwelt suchen mag.

Aus einem Text von Andreas Dunkel, Bochum.