Galerie Hubert Winter

Simone Fattal
30. Oktober – 28. Februar 2021
Welch neue Insignien streckst du mir entgegen von Wimpeln, o Zukunft, die auf den Türmen noch nicht gegründeter Städte flattern? Welchen Rauch läßt du von verwüsteten Schlössern und Gärten aufsteigen, denen meine Liebe gehörte? Welche ungeahnten Goldenen Zeitalter bereitest du vor, du ungezügelte, du Vorbotin teuer erkaufter Schätze, du mein Reich, das es zu erobern gilt Zukunft...?
Die letzten Zeilen. In: Italo Calvino, Der Ritter, den es nicht gab. Roman. Dt. v. O. v. Nostitz. München, Hanser, 1985.

Simone Fattal (*1942, Damaskus) hat bereits an vielen Orten als Künstlerin gelebt und gearbeitet – von Damaskus und Beirut bis Paris, von Südfrankreich bis Nordkalifornien. Diese nomadische Biografie und die damit verbundenen historischen und kulturellen Kontexte bilden den Ausgangspunkt für Fattals künstlerisches Œuvre: Greifbare Spuren einer antiken oder archaischen Welt werden mit unserem heutigen Blick verwoben. „Fattals Geschichte ist ein zeitlicher Mischmasch, ein gewagtes Kontinuum, in der Zeit und Ort geebnet werden und Antikes sich mit Modernem vermengt.“ [1] Für einen solchen Ort gibt es in der persischen Theosophie den Begriff Nâ-kojâ-Abâd – das „Land des Nirgendwo“. Das arabische Pendant dazu ist âlam al-mithâl – dies kann wiederum mit mundus archetypus übersetzt werden – die Welt der archetypischen Bilder, die real existieren und nicht bloß Gegenstand unserer Einbildung sind.

Simone Fattals Skulpturen sind das manifeste Aufeinandertreffen solcher Archetypen. Antike Epen und Mythologien, die Jahrtausende lang die Entwicklung der mediterranen Zivilisation bestimmten, finden im manuellen Formen des Tons – das primäre Medium Fattals – zu abstrakten Gestalten. Im Vordergrund steht dabei die physische und materielle Relation zwischen Künstlerin und Material. Die Figuren oder architektonischen Strukturen, die dabei entstehen, entziehen sich der Sprache reiner Formen und werden durch ihre Titel mit vielschichtigen Bedeutungsebenen erweitert, um sich sanft aber auch bestimmt ihrem geheimen Ursprung und ungeschriebenen Schicksal zu widmen.
Die Collagen Fattals intensivieren diese Verbindungen zwischen Geschichte und Gegenwart. Gesammeltes Bildmaterial aus Magazinen, Zeitungen, Postkarten, eigens produzierte Bildelemente, alte Fotografien und zeitgenössische Bilder werden zu visueller Poesie verdichtet. Die Collagen, allesamt in diesem Jahr entstanden, tragen gewichtige Titel, verweisen auf historische Einschnitte, die sich nicht nur auf die gegenwärtige Situation beziehen (vgl. Travel is Impossible), sondern von erdgeschichtlicher Bedeutung sind (vgl. La Terra Trema, oder die Serie Earth Day). Aus der Vielfalt der Einzelbilder und Formen entstehen kohärente Collagen, die eine sensible Lesart erfordern; vergleichbar mit persischen Miniaturen – kleine, narrative Gemälde oder Buchillustrationen, deren Schlüssel zum Verständnis im flüchtigen Detail liegt.
Geschichte (vgl. Were You Crowned With Laurel, Or With Fire, Oh Damascus), Erinnerung an verlassene Orte (vgl. I Love Damascus), Mythologien und Natur, vor allem Bäume finden sich in ihren Zeichnungen und Aquarellen. Die gezeigten Malereien tragen, in Anlehnung an Robert Walser, den Titel Der Spaziergang (The Walk). Darin manifestiert sich eine lebenslange Verbundenheit Fattals zur Literatur. Als Philosophin ausgebildet, zur Künstlerin geworden, gründet sie 1982 in Kalifornien den Verlag Post-Apollo Press, der sich auf Poesie, experimentelles Schreiben und die Übersetzung amerikanischer, europäischer und aus dem Mittleren Osten stammender Autor*innen spezialisiert. Der Name des Verlags bezieht sich auf das historische Ereignis der Apollo-Raumfahrtmission zum Mond. Ein Ereignis, das Fattal als Zeitpunkt für eine neue Zeitrechnung, gleichberechtigt mit den uns bekannten, ansieht.

Chris Marker und Alain Resnais sprechen in ihrem Film Les Statues Meurent Aussi (1953) von der Kultur als einer „Botanik des Todes“, einem Kreislauf, in dem Menschen nach ihrem Tod in die Geschichte eingehen und Skulpturen nach ihrem „Tod“ in die Kunst. Simone Fattals Werk stellt diese Logik auf den Kopf: Ihre Skulpturen sind keine Artefakte vergangener Zeiten und Kulturen, sondern lebendige Akteure, sie erwachsen aus der Erde, die das sedimentierte Gedächtnis der Geschichte ist, und bezeugen eine Vergangenheit, die zu einer lebendigen Gegenwart zurückgekehrt ist und sich der Zukunft hin öffnen. So wird aus der „Botanik des Todes“ eine „Poetik des Lebens“.


[1] Negar Azimi, On Simone Fattal, siehe: https://www.simonefattal.com/on-simone-fattal/ (letzter Zugriff: 16.10.2020)