Galerie Hubert Winter

RAINER MICHAEL MASON. Abschluss/ Sprung.
RAINER MICHAEL MASON

Abschluss/ Sprung.
In: Urs Lüthi, The Revenge & The Remains of Clarity. Art is the better life. Luzern/Poschiavo, Edizioni Periferia, 2003/04. 

Urs Lüthi arbeitet seit vielen Jahren an einem Roman (von dem man oft nur einige Aphorismen behält). Selbstverständlich ist der Künstler hier zugleich gelebter Stoff und distanzierte Substanz. Der Roman - als soziale und philosophische Geschichte der Veränderung - entwickelt sich dank Übergänge, Etappe und Durchbrüche, welche die Hauptfigur (immer die gleiche in ihrem unaufhörlichen Werden) durchmacht. Der Übergang von kapital zu Kapital ist nicht immer offenkundig, die Zäsuren entstehen nur allmählich. Hier jedoch zeigen The Revenge und The Remains of Clarity eine Wende im Geschehen an. Nach der Biennale von Venedig 2001 erscheinen die glänzenden Bilder, die Trash & Roses verbinden, als die letzten Ausläufer derPlacebos & Surrogates aus der 1996 gestarteten Serie, die ab 2001 mit der abschliessenden Devise Art is the better Lifeversehen wurde. Eine derartige - so eigenwillige wie spöttisch optimistische- Losung beinhaltet gewiß ihre eigene Selbstbezweiflung. Urs Lüthi weiß ja zu sehr um den ambivalenten Charakter aller Dinge. Bei den Täuschungsmanövern auf dem Feld des Kunst- und Denkkonsums, die er z.B. in den Trademarks und Therapies for Venezia inszeniert, trägt jedes Element sein Gift und Gegengift in sich: das Oberflächliche geht in der Oberfläche unter und kommt als Tiefe wieder hoch. Dieser Prozeß ist jedoch nicht gefahrlos. Potentiell ergibt sich dabei so viel Überdeterminierung wie Aushöhlung der Bilder - die der Künstler bald ihrem leeren Schein radikal entziehen wird. 
So komponieren Thousand or more Images, deren all-over sich in den Seiten hier ausbreitet, in einer unendlichen Vermischung von Abgrund und Oberfläche ein blindes Etwas aus Schichten und Widerspiegelungen (Rilke:"...jener große graue blinde Teich, der über seinem fernen Grunde hing wie Regenhimmel über einer Landschaft.") Das Auge sieht sich dabei konfrontiert mit dem Widerhall der Malerei (oder ist es nur eine vage Erinnerung?), mit der (vorgetäuschten) Nüchternheit von lackierten Materialen, mit dem unerschöpfliche sinnsuchenden Blick, der in Zeit und Raum fragend vor der Dichte und Durchsichtigkeit des Realen steht. Diese plötzliche bildliche Sättigung, diese Überdeckung, auf die Urs Lüthi zurückgreift, drückt sowohl die großzügige Darbietung und die Unerreichbarkeit des Bildes wie auch die Gleichgültigkeit und das Verlangen danach aus. Was ist dort zu Ende gegangen bei Urs Lüthi, dem Sucher nach ein wenig Wahrheit, etwa dem Schatten davon, bei jenem, der den "Sichtbaren Rest" zu sehen sucht? "Jeder Wand ist eine Tür", bemerkt Emerson. 
Das Werk (scharfes Bewusstsein der Dinge und Ungewissheit, Tragödie und Komödie) ist immer Ausweglosigkeit und Neubeginn zugleich. Es geschieht dasselbe wie in den von Gegensätzen geprägten zusammenspielenden Strukturen bei den Fugen-Konstruktionen in der Musik. Es kommt der Augenblick der Engführung, wenn Motiv und Antwort in immer gedrängteren Einsätzen aufeinanderfolgen, und bis zur untrennbaren Verwicklung ineinandergreifen. Der Abschluß heißt bei Urs Lüthi: das Weite suchen. Um dem transparenten Gewicht der Bilder zu entgehen, wendet der Künstler sich dem Video zu (mit dem Werkzeugwechsel entsteht inhaltlich auch eine Rückkehr zur Selbstdarstellung). In den Jahren 2001 und 2003 dreht er kurze "Verhaltensstücke". Ich wäre geneigt, diesen (ernsten und ironischen) kleinen geistigen Übungen die Stellung von Minima Moralia im lüthischen Œuvre zu geben - ohne damit irgendeinen Bezug zu Adorno herstellen zu wollen. 
Zuerst (2001) wird der kleine Mann in schwarzen shorts und mit Jogging-Schuhen, Athlet-Frottierhandgelenkreifen und Professoren-Brille in einer erneuten Stilisierung seiner Person kleine Ereignisse inszenieren, die ihn mit Objekten und häuslichen Aktionen konfrontiert: die allgemeine Schwerkraft und Entropie erteilt ihm meist eine Schlappe. Dann zeichnet sich in der Serie, zu der The Revenge gehört (2003), die Läuterung ab. Die "rache" selbst, bei der Urs Lüthi eine kleine Kommode, die so aussah, als ob sie "Ordnung schaffen könnte", total mit einem Hammer zertrümmert, erreicht damit zweifellos die Grenze der Infragestellung der Objekte. Eine dreidimensionale Fassung der Szene wird hier zum Kernstück: auf dem Sockel des Better Art & Life werden die Trümmer des widerlichen Möbelstückes ( sein trügerisches Ordnungsversprechen) samt dem Sieger der Schlacht in der Pose eines vor Verblüffung erstarrten (und skeptischen) Herrn Biedermann ausgestellt. Diese höchst konkrete und illusionistische Plastik "naturalisiert" das aufgenommen Schauspiel, und durch ihren Exzeß an Materialität selbst schickt sich ihre Botschaft auf die Bretter mitten in die Bildüberreste. Auch dese "tableau sculptural" ist dem Untergang in die Thousand or more Images versprochen. Die wahre Handlung, die wahre Aussage spielt sich woanders ab, vernimt man wie im Echo zu Rimbauds "La vraie vie est ailleurs". 
Der Weg ist somit frei. Der Künstler kann nun versuchen abzuheben, in die Luft zu steigen, kann sich von der Schwerkraft losreißen (und zurückfallen - und dabei die ganze Anmut der von Rodolphe Toepffer gekritzelten Schöpfungen wiedergewinnen). Er kann tanzen, in den Himmel gucken und die Ferne erspähen. Immer mit einer wunderbaren Freudigkeit in der Schwermut. Leben und sehen - was? Wann? Urs Lüthi gibt seiner letzten Serie von Videos (die wir als solche nicht sehen werden) die Rolle einer Bilderdatei. Er entnimmt Stills daraus und organisiert die kleinformatigen Abzüge wie Zifferblätter an der Wand: geradezu eine Entfaltung des Leichterwerdens. Der Künstler wechselt von der bleiernen Konzentration zum luftigen Aufschwung (der allzu menschliche Traum des Ikarus!). Man darf wohl meinen, dass, nachdem die gestörten Bilder verschwommen und gestaltlos geworden sind, alles, was von der Klarheit geblieben ist, nun eine neue Leichtigkeit, Distanz und Aufmerksamkeit ist - das gewichtlose Warten auf eine andere Vision. Urs Lüthi projiziert und belebt sein Bild im Kreis um sich gleich Richtpunkte, Schwebezustände, Horizonte, als ob er mittels einer Apparatur à la Muybridge Schlüsselmomente in der Verlangsamung uns Ausweitung der Zeit anspräche. Urs Lüthi träumt vielleicht davon, "den Menschen wieder ins Zentrum des Universums zu stellen, in eine Sekunde aus seinem zersetzenden Abenteuer zu entreißen" (Breton).