Galerie Hubert Winter

PAUL ETIENNE LINCOLN. Panhard Special: The Velocity of Thought.
PAUL ETIENNE LINCOLN

Panhard Special: The Velocity of Thought.
(ex. cat.) Torino: Guido Costa Projects, 2006

The Velocity of Thought ist die Beschreibung des Prototyps eines Automobils, des Panhard Special, und seiner Beziehung zu einer Reihe von Projekten, die sich mit atmosphärischen und respiratorischen Systemen befassen.
Der Panhard Special, dessen 30-jähriger Jahrestag 2006 gefeiert wurde,war der erste von Paul Etienne Lincoln konstruierte komplexe Mechanismus. Die Konstruktion des Special wurde im Sommer 1976 während der ersten Ölkrise begonnen. Als Folge des Anstiegs der Ölpreise auf das Vierfache beschäftigten sich damals viele Leute mit der Erforschung alternativer Energiequellen; der Special ist ein Produkt dieser Zeit.
Der Panhard Special ist ein Geschwindigkeitsmodell, das die Prinzipien früherer Entwürfe aus dem Flugzeug- und Automobilbau in einer Maschine kombinierte. Sein luftgekühlter Panhard & Levassor Tigre-Motor (1) erinnert an die vorne am Rahmentragwerk des Rumpfs der legendären The Spirit of St. Louis (2) montierte Maschine. Vor allem dient das Auto der Erforschung der "Beatmung", ein Begriff, mit dem die Zufuhr von Sauerstoff und Treibstoff in die Verbrennungskammern eines Motors beschrieben wird. Ein zentrales Anliegen des Panhard Special war es, einen Verbrennungsmotor so zu optimieren, dass die Rückstände aus der Explosion des Treibstoff-Luftgemischs nahezu frei von Schadstoffen waren.
Der 1960 entwickelte, geschickt konstruierte, kompakte Tigre-Motor war mit einer Reihe von neuen Designfunktionen ausgestattet, wie etwa einer kugelgelagerten Kurbelwelle, Hochdruckkolben und einer ausgeklügelten, selbstregulierenden Torsionsstabfederung, die über den Öldruck in der Kurbelwellenwanne geschmiert wurde. Die 850 cm³ Standard-Maschine, von der gleichen Grösse wie der Motor eines grossen Motorrads, wurde für den Panhard Special weitgehend modifiziert, damit er auf der Basis von Distickstoffmonoxyd (N2O oder Lachgas), Flüssigpropangas und Leinsamenöl arbeitete. (3) Das erforderte die Konstruktion eines Einspritzsystems mit einer über elektromagnetische Ventile geregelten Treibstoffzufuhr, die Optimierung des Verdichtungsgrads durch Bohrungen des Zylindermantels und der Zylinderlaufbuchsen, sowie die erhebliche Reduktion des Gewichtes der Schwungmasse des kugelgelagerten Schwungrades, die Konstruktion des Steuertriebs und die Neuanordnung des Zündverteilers und seiner Zusatzkomponenten. (4)
Für das Chassis des Special wurden Rohre aus einer kaltgewalzten Chrom-Molybden-Legierung mit geringem Durchmesser verschweisst, die sowohl leicht sind als auch eine extreme Steifigkeit aufweisen. Darauf ist das Rahmentragwerk aus dünnen Rohren montiert, das wie eine geodäsische Auflage für die Gewebeabdeckung fungiert. Die ursprüngliche Gewebe-Karosserie wurde aus industriell gefertigtem Seidenstoff genäht, das am sekundären Rahmentragwerk mit geflochtenem, rostfreien Stahldraht befestigt wurde. Die so entstandene Struktur gleicht der Konstruktion der Zeppelins, der Lenkluftschiffe aus den 1930er Jahren, und den geodäsischen Strukturen Buckminster Fullers aus den 1950er Jahren. (5) Die Vorderachse besteht aus einem ausgeklügelten System von Federstoßdämpfern mit einer Öl-Stickstoff-Aufhängung. Alle einzelnen Teile der Aufhängung wurden mit Nickel beschichtet. Für die Aufhängung der Hinterachse wurde die adaptierte Version der originalen Panhard & Levassor Hohlachse verwendet, die Längslenkerbuchsen und Stoßdämpfer-Bauteile sind Spezialanfertigungen.
Ein brauner Samtsitz fungiert als Polster für den Fahrer. Ein speziell gefertigter Anzug ermöglicht es dem Fahrer, seine Temperatur über eine direkte Verbindung zum Fahrzeug zu kontrollieren. Dieser Anzug, mit einer Vielzahl von mikro-kalibrierten Schläuchen, die in die Innenweste eingenäht sind, mündet über einen ummantelten Spiralschlauch in ein Magnesium-Kontrollventil im Cockpit. Der Fahrer kann über den Heizluftstrom die Körpertemperatur genau regulieren; die Kühlung des Anzugs wird über eine separate, vom motorbeheizten Luftstrom getrennte Luftzufuhr ermöglicht. Diese zweite Luftzufuhr wird durch einen aufblasbaren Schlauchanschluss geleitet, der den Lachgas-Zylinder umschließt. Eine dritte Eigenschaft des Anzugs sind aufblasbare Implantate als Isolationsschicht im hinteren Teil der Innenjacke, die den Fahrer vor Vibrationen schützen. Bei Steigerung der Geschwindigkeit erhöht sich der Druck in den Implantaten.
Der Panhard Special wurde mit nur teilweise verfügbarem technischen Know-How gebaut; die im Laufe von vier Jahren entwickelte Konstruktion war überwiegend intuitiv entstanden. Viele der technischen Zeichnungen wurden erst nach der Konstruktion angefertigt, um Bauteile und Funktionen des Fahrzeugs zu erklären.

DIE MASCHINE ALS MEDITATIVES MODELL

Der Panhard Special war der Beginn einer Faszination für Maschinen und dafür, wie ihre Mechanismen adaptiert werden konnten, um eine Erklärung für ganz andere Aspekte oder Informationsdaten ihrer Funktionen zu finden, die mitunter keinerlei Bezug zum ursprünglichen Zweck hatten. Zur selben Zeit entwickelte Lincoln Therapeutica, ein Projekt, das Luft für die Beschreibung neurobiologischer Prozesse benutzte, welche in der bewußten oder unbewußten Übertragung von Gedanken eine Rolle spielten. Durch die Beobachtung, wie Luft innerhalb der Struktur eines Motors manipuliert wird, ließen sich bestimmte grundlegende Eigenschaften des kognitiven Prozesses erkennen. Therapeutica sollte lediglich ein Requisit im Rahmen einer Performance sein. In dieser Performance wurden sowohl der Künstler als auch das Rumpfinnere – die beide mit komprimierter Luft aus Flaschen versorgt wurden – direkt durch Zufuhr neutraler Luft in die Zufallsmaschinerie des Motors beeinflusst. (6) Die Wirkungen und Resultate der Benutzung von Luft als Metapher für Denken konnte so, wie in einem drei-dimensionalen planaren Modell beobachtet werden. Sowohl Luft als auch Gedanken sind nicht greifbar und überall gegenwärtig und in beiden Fällen ist es der Mechanismus (der Maschine) der ihre Form enthüllt und offenbart.
Die Maschine als Modell der Gesellschaft wurde von Lincoln 1984 in seinem Projekt In Tribute to Madame de Pompadour and the Court of Louis XV erforscht, eine exzentrische Maschine, die entworfen wurde, um die komplexen Facetten der Aufklärung im Frankreich des 18. Jahrhunderts zu enthüllen. (7)
Attraktion und Reproduktion werden in Lincolns Arbeit The Enigma of Marie Taglioni aus dem Jahr 1983 (8), erforscht. In Anspielung auf eine Inschrift auf dem Deckel von Joseph Cornells Etui Taglioni’s Jewel Casket (1940), erzählt diese Geschichte von Marie Taglioni, einer Ballerina des 19. Jahrhunderts, die von einem Wegelagerer gezwungen wurde, auf einem im Schnee ausgelegten Pantherfell unter den Sternen zu tanzen. Besessen von dem Schauspiel dieser amourösen Begegnung, hat Taglioni später ein Ritual entwickelt, mit dem sie die Erinnerung an jene schicksalshafte Nacht wachrief, indem sie ein kleines Stück Eis in die Schatulle zwischen die Juwelen legte, wo durch das Schmelzen des Eises die Atmosphäre der eisbedeckten Landschaft wieder herauf beschworen wurde. Die Untersuchung, die in The Enigma of Marie Taglioni stattfindet, ist der Versuch, jene schicksalshafte Nacht wiederherzustellen, indem die exakten atmosphärischen Bedingungen, die an ihrem 100. Todestag herrschten, als Anordnung für den Betrieb zweier Maschinen genutzt wurden, die jeweils den Wegelagerer und Taglioni selbst repräsentierten. Der Wegelagerer, als Aggressor aus Stahl und Salz, erinnert an Maschinen, die auf Jahrmärkten zu finden sind, an denen man seine Kraft messen kann. Der einzige Zweck des Aggressors ist es, Salztabletten in Richtung Taglioni zu schleudern. Taglioni, eine 'ruhende' Seele, ist zur Entfaltung ihrer Aktivität von der Versorgung mit Salztabletten durch den Wegelagerer abhängig; ihr Beitrag ist die Umwandlung des Salzes in reinen Sauerstoff, durch die Elektrolyse der Salzlösung in ihrem Magen, welche ihrerseits drei Austern am Leben erhält.
Der Panhard Special, obwohl relativ konventionell in seiner mechanischen Konstruktion, ist der Vorläufer einiger späterer, mehr elaborierter Projekte. Seine Einfachheit ist jedoch sein Vorteil und seine Form wurde, wie in einem Kokon 25 Jahre lang unberührt, unverändert und frisch erhalten. Für diese Ausstellung wird Material zur Beschreibung des internen Treibstoffsystems und der Konstruktionsgeschichte des Special auf einem Schautisch präsentiert. Dies wird die einzige kontextuelle Ergänzung sein, die dem Betrachter für das Verständnis des einzigartigen Atmungsprozesses dieses nur selten in Aktion zu sehenden Rennwagens dienlich sein soll. Es wird auch ein kurzer Dokumentarfilm gezeigt, mit einer Menge von Archivbildern und Filmmaterialien von einem Testlauf des Wagens in Sequals, Italien, die die Funktionen des Specials zeigen. Der Höhepunkt des kurzen Films ist eine Sequenz von Aufnahmen des Specials, wie er die spiralförmige Rampe von Giacomo Mattè Truccos Lingotto Fabrik hinaufgefahren wird. Während das Auto sich die Spiralrampe hinaufschraubt, werden Bilder früherer Untersuchungen des Atmungsapparates, wie Therapeutica, The Enigma of Marie Taglioni, In Tribute to Madame de Pompadour and the Court of Louis XV, Ignisfatuus, und schließlich Hyperbaric- Hypobaric, eine Konstruktion die gerade in Arbeit ist, in die Aufnahmen eingeblendet. Die Schluss-Sequenz zeigt, wie das Auto auf der berühmten Teststrecke auf dem Dach von Lingotto mit dreissig Litern Distickstoffmonoxyd, Flüssigpropangas und Leinsamenöl dreissig Runden dreht.
Truccos Lingotto Fabrik ist die Manifestation des Modells einer architektonischen Superstruktur, eine spiralförmige Maschinenfertigungs-Einrichtung, in der Autos auf fünf aufeinanderfolgenden Rampen konstruiert und gefertigt wurden, mit abschliessender Präsentation auf der ovalen Teststrecke. Mit der Kreation dieses cinematischen Zwischenspiels wird die Lingotto Fabrik in einen symbolischen Palast der Erinnerung (9) transformiert. Seine spiralförmige Progression, ein wiederkehrendes Motiv in Lincolns folgenden Projekten, wird zur Analogie des Vergehens von Zeit, zum Diagramm der Entropie und des permanenten Wandels.


Anmerkungen:

1) Die Wahl der Tigre-Maschine war sowohl ästhetisch als auch symbolisch. Panhard & Levassor, 1890 gegründet, war einer der ersten Pioniere der Automobilindustrie in Europa; die damals in der Treibstoff-Forschung führende Abteilung für Zivil-Produkte wurde 1968 von Citroën übernommen.
2) The Spirit of St Louis war das Flugzeug mit dem Charles Lindbergh 1927 den ersten Transatlantikflug von New York nach Paris bewältigte. Der voluminöse Motor, der sich an der aluminiumverkleideten Nase drehte, hat Ähnlichkeiten mit der markanten Karosserie des Specials.
3) Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurden von der Royal Air Force Experimente mit Turboladern an Spitfire-Flugzeugen durchgeführt. Anfangs wurde Sauerstoff verwendet um die Verbrennungsgeschwindigkeit des Treibstoffs in den Zylindern zu erhöhen, später wurde Distickstoffmonoxyd (N2O) verwendet, das bei niedrigerem Druck gelagert werden konnte. Wird Distickstoffmonoxyd in einen Motor eingespritzt, hat es einen kühlenden Effekt, wodurch die Temperatur im Ansaugstutzen um ungefähr 60-75°F (~16–24°C) gesenkt werden konnte. Distickstoffmonoxyd erreicht seinen Siedepunkt von -88°C (-129°F) sobald es eingespritzt wird, was einen Abfall der Lufttemperatur im Ansaugkrümmer von ~24°C (75°F) bewirkt und wodurch zusätzliche Kraft gewonnen wird. Flüssigpropangas war ein allgemein verwendeter Ersatz für Erdöltreibstoffe, die während des Zweiten Weltkriegs streng rationiert waren. Zu der Zeit, als der Panhard Special entworfen und konstruiert wurde, war Flüssigpropangas leicht erhältlich und hat sich als die beste Lösung erwiesen. Die kombinierte Einspritzung von Propan und Distickstoffmonoxyd hat die Verbrennungseffizienz wesentlich erhöht.
4) In der Folge wurden im Zuge einer Reihe von Tests einige Veränderungen vorgenommen und die Maschine so umgebaut, dass sie auch mit konventionelleren Treibstoffen lief.
5) 1980 wurde die Gewebeverkleidung durch ein maschinell gefertigtes Aluminium-Rahmenwerk ersetzt, die das schreckliche Trommel-Geräusch der Seide bei hohen Geschwindigkeiten eliminierte. Es wurden auch Scheinwerfer, Blinker, Bremslichter und Nummerntafeln angebracht.
6) Es gibt keinen publizierten Text über Therapeutica (1978-79). Die Arbeit ist in drei Teilen angelegt: der Hauptmotor mit zwei pneumatischen Flügeln, einem Querflügel, einem transparenten, labyrinthisch angeordneten Aggregat zur Verteilung der Luft, einem Druckmesser und einem Gerät für Datenübermittlung. Der zweite Teil war ein pneumatisch betriebener Ventilator als Symbol für unbewusste Fantasie, der in unmittelbarer Nähe des Motors angebracht war und schliesslich ein Oszilloskop, das die Übertragungen neutraler Luft überwachte. Die Arbeit existierte als eine Gesamt-Performance, während der der Hauptmotor und der Künstler, der mit dem Oszilloskop elektrisch verbunden war, gleichzeitig, durch mit Helium gefüllte meteorologische Ballons getragen, in der Luft am selben Ort schwebte. Der Zweck dieser Anordung war es, das Pulsieren der Luft zum Ventilator hin zu beeinflussen. Der Ventilator bewegte die Flügel des Motors, die die Luft (bewusste Materie) nach dem Zufallsprinzip bewegten, um verschiedene Teile der Maschine anzutreiben; das Ergebnis war, die Entstehung von Materie in den Geräten für Datenübermittlung (kleine, ineinander verschachtelte Ballons) zu verhindern, die das Ende der Performance bedingten.
7) Siehe Erklärung: In Tribute to Madame de Pompadour and the Court of Louis XV. New York: Christine Burgin, 1990.
8) Siehe: A Transcript to Unrequited Euphoria. Vienna: Hubert Winter, 1992. Siehe auch: The Ganzfeld (New York), no. 4 (2005), pp. 184-95.
9) Mnemonische Architektur wurde weithin bekannt durch die Bemühungen des venezianischen Akademikers Guilo Camillo (1480 – 1544), dessen Manuskript 1550 posthum unter dem Titel L'Idea del Teatro, dello Eccellente M. Giulio Camillo publiziert wurde. Dieses Buch erläutert die siebenteilige Struktur von Camillos Theater. Es besteht aus sieben Ebenen, deren Niveaus sich durch das Auditorium emporschraubten: sieben Aufgänge führten durch die sieben Ebenen hinauf, von denen jede wiederum durch sieben Aufgänge unterteilt war, sodass der Übergang von einer Ebene zu nächsten klar gekennzeichnet war. An jedem Aufgang waren Abbildungen angebracht, mittels derer eindrucksvolle Bilder im Bewusstsein des Zuschauers evoziert wurden. Siehe A Violet Somnambulist Spiriting the Fugacious Bloom. New York: Christine Burgin, 2000.