Galerie Hubert Winter

MARKUS MITTRINGER. Nabelschnur zum Auto.
MARKUS MITTRINGER

Nabelschnur zum Auto.
In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 25.11.2007, Nr. 47, 71

Es ist ja nichts Ungewöhnliches, zumal bei Engländern, dass bisweilen in einer schattseitigen Garage geschraubt wird, an Fahrzeugen gebastelt, mit deren Jungfernfahrt dann auch schon der Höhepunkt des Interesses am Mechanismus erreicht ist. (Das Verhalten schlägt sich bis heute in der nur bedingten Großserientauglichkeit echter englischer Autos nieder.) Bis dahin beherrscht Identifikation mit dem Vehikel den Hinterhof. Der Vollzug der Vereinigung mit der Maschine aber, das Einswerden mit dem Apparat als Ziel des Ingenieurs, fällt aus der Hobby-Reihe. Gut, der Anpressdruck an den Schalensitz beim rabiaten Beschleunigen oder die Fliehkraftwirkung bei engeren, forciert genommenen Kurvenradien wird bisweilen als Gefühl der Einheit beschrieben.
Dass aber der Versuch unternommen wird, die Atmung von Motor und Fahrer zu koppeln, dass Vergaser und Lenker-Lunge zumindest versuchsweise synchronisiert werden, bleibt Paul Etienne Lincoln vorbehalten. Und auch die Erkenntnisse aus den Testläufen haben wenig mit Straßenlage und Beschleunigung, mit Spurtreue oder der Frage zu tun, über welche Achse das Mobil im Notfall ins Schleudern kommt. Das alles mag Paul Etienne Lincoln (geboren 1959 in London, lebt in New York und Italien) interessieren, mag für ihn Motivation sein, für ihn den Lustfaktor am Schrauben im Hinterhof abgeben. 

Zwischen Kunst und Wissenschaft

Letztlich steht dem Basteln aber ein anderes Ziel vor: Mechanismen zu entwickeln, die sowohl Analogien zum Gesellschaftskörper aufweisen wie auch als Metaphern für Denken und physische Prozesse dienen können: Der Künstler Paul Etienne Lincoln nimmt sich die Freiheit, Ingenieur zu sein, der Ingenieur Paul Etienne Lincoln nimmt für sich in Anspruch, die Ingenieurwissenschaften zu erweitern. Seine Apparate dienen immer dem uneigentlichen Zweck. Ungefähr dreißig Jahre ist es her, dass sein "Panhard Special" erstmals lautstark durchatmete - auch als Antwort auf die Ölkrise Mitte der siebziger Jahre. Annähernd schadstofffrei sollte der luftgekühlte Panhard & Levassor-Tigre-Motor laufen - und ohne Erdöl. Lincoln hat die 850er-Maschine derart modifiziert, dass Distickstoffmonoxid, also Lachgas (ein "Hallo!" an alle Streetfighter im Hobbykeller), Flüssigpropangas und Leinsamenöl die Hochdruckkolben bewegen konnten. 
Das Triebwerk hängt in einem Gitterrohrrahmen, der ursprünglich mit drahtverspanntem Seidengewebe, später mit Aluminium verdeckt wurde. Das tiefgelegte Fahrzeug mit seinem blank polierten Bugatti-Hintern und einer Ahnung von Charles Lindberghs "Spirit of Saint Louis" in der Front ist eigenwillig schön, liegt ästhetisch irgendwo zwischen englischer Sportwagenklassik und Bat-Mobil. Und Lincoln, sein Konstrukteur, gibt dazu den exzentrischen Herrenreiter im Renn-Overall mit Sonderausstattung, hängt, mit diversen Schläuchen verbunden, unmittelbar am Antrieb. Eine "Nabelschnur" verbindet den Fahrer mit dem Heizluftstrom, "regelt" derart seine Körpertemperatur, die Kühlung des mit Röhren durchwobenen Anzugs übernimmt eine Verbindung mit der Ummantelung des Lachgaszylinders im Gemischaufbereitungssystem des Motors.

Fahren unter Druck

Zudem ist der Overall mit diversen pneumatischen Implantaten versehen, die - je nach Drehzahl - aufgepumpt beziehungsweise entlüftet werden. Zum einen erweist sich das als wirkungsvoller Vibrationsschutz, zum anderen will Lincoln damit Geschwindigkeitsschwankungen als an- oder abschwellenden Druck unmittelbar erlebbar umgesetzt wissen. Gefahren ist der Prototyp selten. Als Video dokumentiert ist seine Jungfernfahrt durch die spiralförmige Rampe von Giacomo Mattè Truccos Turiner Lingotto-Fabrik hoch zur Teststrecke auf dem Dach. Dort hat Paul Etienne Lincoln dann dreißig Runden mit genau dreißig Litern seines Alternativgemischs gedreht. Und sich in der Folge anderen Projekten zugewandt, komplexeren Mechanismen zur Untersuchung von Atmungsapparaten: "Therapeutica" etwa, einer Anordnung, die versucht, aus der Manipulation von Luft in den Kammern von Motoren ein kognitives Modell abzuleiten - Luft dient dabei als Metapher für die ebenfalls "immateriellen" Denkprozesse -; oder "In Tribut to Madame de Pompadour and the Court of Louis XV", einem Modell zur Beschreibung von Gesellschaft als komplexe Maschine.
Nach Jahrzehnten in der Mottenkiste zeigt die Wiener Galerie Hubert Winter nun den restaurierten Prototyp des "Panhard Special" samt ausführlichem Dokumentationsapparat, Video und detaillierten Konstruktionsskizzen. Die allerdings sind gefaked - im Nachhinein entstanden -, simulieren ein konventionell entwickeltes Fahrzeugkonzept. Paul Etienne Lincoln, der Künstler als Ingenieur, hat intuitiv gearbeitet: zum einen nach dem beliebten Trial-and-Error-Prinzip Versuchsreihe an Versuchsreihe gehängt, zum anderen Inspirationsquellen einfließen lassen, die nicht unbedingt dem Stand der Technik der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts entsprachen.

Die Luftfahrt als Vorbild

Die geodäsischen Strukturen eines Buckminster Fuller finden sich da im Chassis ebenso frei angewandt wie die futuristische Konstruktion der Zeppeline der dreißiger Jahre, bei denen Lincoln Anleihen zur Leichtbauweise seines Fahrzeugs nahm. Charles Lindberghs Pioniergeist wird ebenso zitiert wie die Geschwindigkeitsmodelle der Futuristen.
Und: Paul Etienne Lincoln würde die "Große Komplikation" niemals erfinden, nur um mechanisch dahinterzukommen, welche Stunde es geschlagen hat - eher schon, sich einer Antwort auf die bohrenden Frage zu nähern, warum die Zeit vergeht und was eigentlich er damit zu tun hat. (Die vollständige Ausstellung kostet 240 000 Euro.)