Galerie Hubert Winter

Alles oder Nichts
Giacinto di Pietrantonio — (dt. v.Johannes von Schlebrügge)

On vend du vent (1988), beep, honk, toot (1989), why did I ever change? (1990), un tetto sicuro in tutto il mondo (1991),Yo (1991), è qui il Texas (1995), dio (1997) : das sind einige von Haim Steinbachs Arbeiten aus den letzten zehn Jahren, in denen er ausschließlich Schrifttexte verwendet. Wobei er nichts selbst verfaßt, sondern in Zeitschriften, Zeitungen und Büchern gefundene Texte an Galerie- und Museumswänden oder auf einer Trägerstruktur aus Holz, so bei dio, vergrößert reproduziert.
Diese Serie von Arbeiten, die mit poetischen Strukturen arbeitet und mit der gedruckten Alltagssprache, meistens mit Slogans und Titeln, spielt, ist sowohl mit der Anthropologie als auch mit der Kunstgeschichte eng verknüpft. Die Kubisten waren die ersten, die Zeitungsausschnitte verwendeten. Nicht zufällig waren sie Maler von Stilleben, sodaß sie die psychologische Tragweite von Objekten und Texten ganz genau kannten. Ihr Konzept wurde später von anderen Bewegungen übernommen, vom Konstruktivismus ebenso wie von Dada und sogar, noch viel später in den siebziger Jahren, von den Künstlern der Concept Art. Denn genauso wie diese untersucht und visualisiert Steinbach das Wortspiel in der Kultur, um zu zeigen, wie Bedeutungen kommuniziert werden.
Doch anders als Joseph Kosuth, John Baldessari, Edward Ruscha oder Lawrence Weiner verwendet er bereits vorhandene Texte. Er "hebt sie auf", er "rettet" sie , um mit seinen Worten zu sprechen. Die in Magazinen und Zeitungen gefundenen Slogans haben Rhythmus, Humor und Melodie, nicht nur inhaltlich, sondern auch typographisch. Maschinell hergestelte Buchstaben erhalten Namen und werden mit Eigenschaften ausgestattet, die regionaler oder psychologischer Herkunft sind, als hätten diese Buchstaben eine eigene Persönlichkeit. Wir sprechen im Englischen von "characters"(Buchstaben), wenn wir verschiedene Schriftarten bezeichnen wollen: z. B. "Times", "Courier" oder "Modern". Die Typographie einer Schrift ist sowohl global als auch ortsspezifisch. Insofern spiegelt sie die globale ebenso wie die lokale Situation. Geschichte und Identität der verschiedenen Völker werden nicht nur durch ihre Küche, ihre Landscchaft oder typischen Erzeugnisse, sondern auch durch die Unterschiede ihrer Schrift charakterisiert : die Ägypter durch die Hierogyphen, durch die Keilschrift die Sumerer, durch die Bilderschrift die Chinesen etc. Das Deutsche kennt den Begriff des "Schrifttyps". Das Wort besteht aus zwei Hälften, zum einem der "Schrift", also der Erscheinungsform des Schreibens, zum anderen dem "Typ", der sich auf das Schreiben selbst bezieht. "Typ" wird in vielen Sprachen zur Beschreibung mentaler und physischer Unterschiede benutzt ; es gibt heitere Typen und traurige, magere und dickliche. Dem englischen "bold" entspricht im Italienischen nicht zufällig "grassetto", ein bißchen fett, halbfett. Dem italienischen "corpo"für die Bezeichnung der Schriftgröße entspricht im Englischen "size", das an Kleidermaße und Körpergrößen denken läßt, während im Deutschen eben "Größe" nicht nur die räumliche Dimension, sondern auch den menschlichen Charakter bezeichnet. Der typographische "character" hat also nicht nur Charakter (Persönlichkeit / nationale Eigenart) und Körper (physische Eigenheit), sondern auch Gesicht (Ausdruck), im Englischen "typeface". Dieses Gesicht verleiht dem Buchstaben seine archetypische Besonderheit, die ihn dem Objekt oder der Person , auf die er verweist, ähnlich macht. Graphische Künstler und Typographen berücksichtigen diese kulturellen und sozialen Besonderheiten. In der Werbung werden Schriften entsprechend ihrer psychischen Wirkung eingesetzt, die der Betrachter direkt oder indirekt wahrnimmt.
Indem Steinbach also diese geschriebenen Texte "rettet", macht er die Besonderheit ihrer Sprache und ihrer Typographie erkennbar.
Un tetto sicuro in tutto il mondo und per la politica pulita formulieren mit allem Nachdruck die an die Demokratie gerichtete Forderung, Wohnungen für alle zu schaffen. Steinbach macht hier seine Kritik an einer Politik der Rechten deutlich, die Tausende von Menschen um ihre Wohnungen gebracht hat. In why did I ever change? zeigt sich die kritische Haltung in der Form der Selbstbefragung. È qui il Texas beschwört die Lebenskraft unermeßlicher, wilder, nicht institutionalisierter Räume , der Name wird zum unabgeschlossenen Signifikanten des Mythos und des Ortes. Steht dieser Satz an der Wand, verweist er auf die Identität des Ausstellungsortes als Kontext oder Institution.
On vend du vent, das mit Luft und Wind zu tun hat, erinnert an Duchamps Air de Paris und Manzonis Fiato d'artista. Der eine huldigt der Stadt, der andere dem Körper. Während Duchamp aber in seine Arbeiten noch Objekte aufnahm, hier eine mit Luft gefüllte Ampulle aus Glas, verwendet Steinbach ausschließlich Text und bezieht sich damit ganz deutlich auf das geheime Zusammenspiel von metaphorisch gebrauchten "images" und "merchandising" in unserer Gesellschaft. Dennoch befaßt er sich nicht mit Werbung als solcher, und es gibt bei ihm keinen Bezug auf einen Produktnamen, wie das bei Warhols Bild von Coca Cola der Fall war. Er verweist vielmehr auf das falsche Bewußtsein, das den Akt des Verkaufens durchdringt. Was ihn tatsächlich beschäftigt, ist das Fehlen eines Gehalts.
Für den zeitgenössischen Animisten wird der im Museum ausgestellte Slogan zu allem oder nichts. Yo und dio sind perfekte Beispiele für künstlerische Anstrengungen, wo Hoch -und Trivialkultur, Einzigartigkeit und Vielfältigkeit, Universalität und Regionalismus die Rollen mischen und tauschen. Yo ist ein Ruf, der keinen Namen gebraucht, sondern bei irgendwem auf sich aufmerksam machen will. Dio hingegen ist ein Eigenname, mit dem wir jemanden ansprechen, der abwesend und nicht wirklich ist, ein immaterieller Niemand, der aber für uns alle steht. Er bezeichnet jene Verwandtschaft von Materiellem und Immateriellem, von Körper und Geist, Hier und Anderswo, Fülle und Leere, die uns begreifen läßt, daß wir aus einer Welt voller Objekte (Waren) und Bilder (TV) in eine andere Welt überwechseln, in der die schriftliche Mitteilung durch das Internet den öffentlichen und den privaten Bereich besetzt. Das globale Netz ist nichts mehr im überkommenen Sinne Materielles.
Gegenwärtig ist das Schreiben im Internet eine andere Form des Sprechens, Schreiben wird etwas Orales. Auf diese Oralität zielen Steinbachs Slogans. Er benutzt die Sprachen der Werbung und der Populärkultur, um die Vorherrschaft des Oralen in einem neuen Medienzeitalter zu demonstrieren. In beep, honk, toot werden die drei Töne einer Autohupe in eine verbale Mitteilung verwandelt. Strukturelle Aspekte der Sprache, typologisch und metonymisch funktionierende Wortspiele geraten hier in den Vordergrund. Die Betonung des Typologischen ist auch bei a duchess, a movie queen and a prince of a guyspürbar. Die Botschaften der von Steinbach ausgewählten Slogans sind meistens sprichwörtlich, sie erscheinen wie gesprochen und appellieren an uns in der Öffentlichkeit, anders als Geschriebenes, das wir privat lesen und das unsere ganze Konzentration beansprucht. Die intensive Oralität der Slogans betont den starken Erzähl - und Konversationscharakter dieser Arbeiten. Die einfache Struktur von Maximen, Sprichwörtern und Märchen ist die Botschaft, die dieses Spiel sichtbar macht, die Begründung einer globalen und archetypischen Kultur, einer Populärkultur. Steinbachs Werk hat seinen Ort an der Kreuzung, wo Maximen, Sprichwörter und Allegorien, die in der Werbung zur Schaffung von Kaufanreizen benutzt werden, eine andere Richtung einschlagen, um in Museen, Galerien, Büchern oder Katalogen Einzug zu halten.