Galerie Hubert Winter

Walking 9 to 5. A Timemachine?
Ingo Nussbaumer — in: Every Day Life, Danica Phelps. Grinnell College, Faulconer Gallery Grinnell, Iowa. 2005

Darf man naturwissenschaftlichen Erkenntnissen trauen, so würde, wenn alle Bewegungen aufhörten auch alle Zeitabläufe eingefroren sein. Bewegung und Zeit sind eng verschwistert. Bewegung ist ein Ortswechsel im Raum im Ablauf von Zeit. Der zurückgelegte Weg durch die Zeit ergibt die Geschwindigkeit. Im Schnellsten das die Naturwissenschaft kennt, dem Licht, steht die Zeit nach Einsteins Relativitätstheorie jedoch still. Lichtgeschwindigkeit stellt das Vergehen von Zeit, den Zeitfluß ein. Nichts driftet mehr in die Vergangenheit. Ein Zustand dauernder Gegenwart tritt ein. Die Relativitätstheorie sagt eine Zeitverzögerung bei schnell bewegten Systemen voraus, da sie in Relation zur Konstante der Lichtgeschwindigkeit stehen. Eine Uhr vergeht langsamer, wenn sie selbst bewegt wird und sie vergeht um so langsamer, je schneller sie bewegt wird. Wird sie mit Lichtgeschwindigkeit bewegt, erreicht ihr Vergehen den Nullfluß, sie steht still. Die Vorhersage aus Einsteins Relativitätstheorie ist durch eine Reihe von Versuchen belegt und man spricht in diesem Zusammenhang von Zeitdehnungoder Dilatation, die Systeme durch Bewegung erfahren können.
Uhren sind nicht nur Gebilde wie wir sie aus der klassischen Vorstellung mechanischer oder digitaler Systeme beziehen, sondern jedes autopoietische System, jeder Organismus ist eine Uhr. Die Chronobiologie spricht beispielweise von der inneren Uhr, die sich aus der Entwicklung von Millionen von Jahren herausgebildet hat und bestimmte Rhythmen wie Wachen und Schlafen reguliert. Davon ebenso betroffen sind Leistungstiefs und Leistungshöhepunkte. Biologische Uhren registrieren Ortszeit im Kontext von Naturereignissen aus der sich für die Organismen die Fähigkeit sich auf bestimmte, kommende und wiederkehrende Ereignisse einzustellen resultiert. Die innere Uhr ist ein Meister der Indikation von Ereignissen, die auch dann abläuft, wenn durch experimentelle Versuchanordnungen eine vollständige Isolation der Versuchperson hinsichtlich aller äußeren Eindrücke, welche auf Zeitgeschehnisse verweisen, erfolgt.
Gehen wir davon aus, daß wir lebendige Uhren im Kontext von Naturereignissen sind, so tritt mit jeder Aufeinanderfolge der Bewegung, die wir forcieren, eine Zeitverzögerung ein. Als bewegte und uns bewegende Systeme hemmen wir den Zeitfluß, wenn auch unmerklich und höchst gering. Nehmen wir uns vor, anstatt 8 Stunden an einem Ort zu verharren, 8 Stunden in eine Richtung zu gehen, so tritt bei Realisierung der physikalische Umstand ein, daß das Vergehen von Zeit verlangsamt, d.h. Altern hinausgezögert wird, welches als Indiz für das Vergehen von Zeit bei lebenden Systemen steht. Jede Bewegung, in die wir uns als lebende Uhren bringen, versetzt uns physikalisch in eine (wenn auch noch so geringe) Situation einer Zeitmaschine (die Verharrenden altern schneller), wegen der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit.
Als kreative Wesen funktionieren wir nicht nur nach dem Prinzip der inneren oder biologischen Uhr, sondern gebärden uns auch nach inneren Vorstellungsbildern, welche wir selbst hervorzubringen und zu regulieren imstande sind. Mit dem Phänomen, sich etwas geistig zu vergegenwärtigen oder zu erzeugen, tritt ein weiteres Phänomen zutage, eine mentaleZeitdehnung oder -verzögerung. Wir vermögen mit unserer Fähigkeit Dinge zu imaginieren, in verschiedenste Zeitabläufe und Zeitketten ‚buchstäblich' zu springen. Eine Linie, die wir ausführen, steht plötzlich für einen Weg, den wir 8 Stunden am Tag von einem Ort B (beginning) nach einem Ort E (end) zurückgelegt haben. Wir vergegenwärtigen uns in einem Augenblick einen Ablauf von 8 Stunden, der vielleicht von einer Flut blitzschnell auftauchender Bilder begeleitet wird. In unseren Gedanken gleichen wir einem höchst energetischen Zustand. Wir beschleunigen in Gedanken einen Vorgang und zwar sowohl prospektiv, wenn das Ereignis des Gehens erst bevorstehen soll, als auch retrospektiv, wenn das Ereignis schon hinter uns liegt, als auch introspektiv (‚hineinblickend'), wenn wir das Ereignis gerade ausführen mit Geschick. Wir raffen es in eine Form, welche nicht nur repräsentierende Züge, sondern – unter der Voraussetzung mehr als bloß wiedergebender Aspekte – auch kreative Züge, d.h. Zukunftsperspektive trägt.
Daher ist Raffung allein nicht das genannte Phänomen der mentalen Zeitverzögerung, die sich zu einem Nullfluß des Zeitvergehens orientiert. Das Zusammenziehen von Vorgängen bestimmter Dauer in Repräsentationsformen präpariert sozusagen erst den Zeitsprung. Wir katapultieren uns im Vorgang des Zusammenziehens erst in den Vorgang der Beschleunigung, der uns in den eigentlichen Fluß von erzeugenden Gedanken und Ausdruckformen bringt. Von einer Bewegung im physikalischen Raum begeben wir uns in eine Parallelbewegung im geistigen (pneumatischen) Raum. Die Zeit steht für uns geistig still, wenn wir uns in einer Flut von blitzschnell sich vollziehenden Gedanken und Ausdrücken höchster Spannung finden, während die Zeit möglicherweise physisch wie in Windeseile vorüber fließt. Wir altern in einem geistigen Sinne, wenn wir mental träge sind. Wir verjüngen uns, wenn wir im Fluß von hervorbringenden und bewegenden Gedanken sind.
Diese Aspekte (die jedem in ungefährer Weise vertraut sein können) sind von Relevanz für die Kunst, da in ihr Zeit sich in einem Raum der Gleichzeitigkeit und Gegenwärtigkeit beginnt zu thematisieren. Die Frische geistiger Vorgänge überträgt sich auf die Ausdrucksform und -kraft der Kunst. Sie enthält nichts von einem verkorksten, erstarrten System, sondern läßt immer wieder neu entstehen. Sie bleibt bildhaft gesprochen eben jung. In diesem Sinne katapultieren wir uns in Richtung eines Zeitstillstands, aus der sich Ausdrucksformen und Modi als zeitlos konnotieren. Und in diesem Kontext vollzieht sich eine mentale Dilatation der Kunst.


The Writer's Trade
These essays are part of a project in which Danica Phelps traded drawings with selected writers, who, in exchange, contributed an essay dealing with an issue raised by her work.
All the essays and drawings are published in
Every Day Life, Danica Phelps. Grinnell College, Faulconer Gallery Grinnell, 2005.