Galerie Hubert Winter

Mary Ellen Carroll
Proposals, Encryptions and the Death of a Typology (Architec­turally Speaking)
11. März – 7. Mai 2011
Denn wenn die Illusion ein Stück Wahrheit enthält, so ist diese Wahrheit nicht außerhalb von uns, sondern in uns.
Die letzten Zeilen. In: Claude Lévi-Strauss, Das Ende des Totemismus. Dt. v. H. Naumann. Ffm, Suhrkamp, 1969.

In ihrer fünften Einzelausstellung in der Galerie zeigt Mary Ellen Carroll zwei frühe wegweisende Arbeiten, in denen es um Systeme des Verstehens in Sprache und Architektur geht, sowie eine Serie von noch nie gezeigten Zeichnungen mit dem Titel actions to make architecture perform.
Ihr reichhaltiges Oeuvre, entstanden in den letzten 20 Jahren, ist interdisziplinär angesiedelt und kreist um die Fragen von Subjektivität, Sprache und Macht. Diese werden in der künstlerischen Praxis durch Doubles, Imitation und Kopien überprüft – diese Motive werden in unterschiedlichen Ergebnissen ausgelotet, vom Evozieren des Unheimlichen bis zur Untersuchung der Verbreitung und der Interpretation eines Kunstwerks. Arbeiten, die mühelos scheinen, wie das Sichern der Idee eines anderen Künstlers als Handelsware, oder so komplexes und gewagtes wie sich nur mit einem Reisepass und den Kleidern am Leib für sechs Wochen in ein fremdes Land zu begeben. Carroll lässt in all ihren Arbeiten ein stark performatives Element einfließen;


selbst das aktuellste Werk prototype 180 (www.prototype180.com), dessen Realisierung zehn Jahre dauerte, beinhaltet die physische Rotation eines Einfamilienhauses, eine Art Architektur-Performance.
A Modest Proposal/A Modist Prepozel (1990-1991) besteht aus acht wollenen Marinedecken aus dem zweiten Weltkrieg, in die der gesamte titelgebende Essay von Jonathan Swift gestickt ist. Das quintessentielle Werk von satirischer Ironie aus dem Jahr 1729 beinhaltet den monströsen Ratschlag des Autors, dass die Reichen an den Kindern der Armen Kannibalismus praktizieren sollten. Carroll transkribierte den Essay in Lautschrift nach dem American Heritage Dictionary, setzte dann den gesamten Text in Universal, der 1925 von Herbert Bayer entwickelten Bauhaustypographie, und stickte ihn mit schwarzem Seidenfaden in die Decken. Vom ersten bis zum achten Panel wird die Qualität der Arbeit maschineller und zeugt von der zunehmenden Arbeitsleistung im Fertigungsprozess, der während des MacDowell Fellowship begann und dessen Fertigstellung zwei Jahre dauerte. Das Resultat verwandelt den Ausstellungsbesucher zunächst in einen Darsteller, der die Worte laut ausspricht, dann zum Zuhörer seiner selbst, was durchaus zum Lachen anregt. Es ebnet somit das Spielfeld für Leser, die Englisch nicht als Muttersprache sprechen, da die lautsprachliche/ lautschriftliche Hürde eine Fremdheit für alle mit sich bringt.
act of god (1999) hat als Zentrum Mies Van der Rohes “glass house” am Fox River in Illinois unweit von Chicago. Um der zweifelsohne wichtigen Rolle der Fotografie in der Weitergabe von architektonischem Design gerecht zu werden, entstanden Arbeiten, die ein Maximum an Information in einem reproduzierbaren Bild wiedergeben können. Zusammen mit Dr. David l. Hecht, dem Entwickler von Dataglyphen am Xerox Palo Alto Research Center in Kalifornien - dem Binärcode, der die Basis aller digitalen Technologien ist - entwickelte Mary Ellen Carroll “Glyphtones”, die Halbtönen ähneln. Dem gedruckten Muster, welches das Bild produziert, wird eine chiffrierte Information überschrieben: die Information wird zum Bild selbst. Die Landschaftsansichten in act of god sind von Mies Van der Rohe selbst aufgenommene Standortaufnahmen am Fox River; die zu kodierende Information ein Kapitel aus den Memoiren Edith Farnsworths, der Besitzerin des Hauses, in dem sie die schwierige Situation zwischen ihr selbst und Mies Van der Rohe beschreibt. Hechts Glyphen, die diese beiden Quellen kombinieren, wurden dann kodiert in lithographische Platten eingeschrieben. Die Farben aus dem Text wurden zu Teilen der individuellen Titel der Arbeiten und sind zu beachten, wenn der Besitzer der Edition das Set im Offset-Druck produzieren möchte. Der rechtliche Terminus act of god, in der Kunst als Titel verwendet, weist auf die Wahrscheinlichkeit einer Überschwemmung des Fox Rivers hin, bei der auf „wundersame“ Weise das Äußere des Hauses zum Inneren werden kann - dank Mies van der Rohes Design - gleich einem Aquarium. Und natürlich auf die Bewegung der Fotografie außerhalb der Bildfläche hinein in ein Reich reiner Daten. Die Zeichnungen action to make architecture perform entstanden seit 1992 und handeln von Befehlen oder Prozessen von architektonischen Ansichten, Plänen und Profilen. Zwanzig Jahre später haben diese Zeichnungen den Rotationsprozess von prototype 180 beeinflusst.

Mary Ellen Carroll
*1961 in Danville Illinois, lebt und arbeitet in New York und Houston
2010 Graham Foundation Fellowship für prototype 180 und innovation territory
AIA’s Artist of the Year Award
Weitere Stipendien/Preise: Guggenheim Fellowship, Pollock/Krasner Award, Rockefeller Foundation Fellowship, MacDowell Colony Fellowship, u.a.
Eine Monographie ihrer Arbeit, publiziert von SteidlMACK (London/Göttingen) erhielt 2010 den AIGA’s Book of the Year Award.
Mary Ellen Carroll unterrichtet an der architecture school in der Rice University, in Houston, Texas.

  • Review: artmagazine.cc 10.4.2011 (PDF)
  • Review: Wiener Zeitung 11.7.2011 (PDF)
  • Review: DER STANDARD 17.3.2011 (JPG)